Kommt es dir auch manchmal so vor, als wärst du ein Zuschauer in einer immer chaotischer werdenden Welt, sozusagen im „falschen Film“? Tatsache ist, dass wir natürlich nicht im Kino sitzen, sondern ein Teil dieser Welt sind, auch wenn die Schauplätze von Krieg und Gewalt oft weit weg und außerhalb unseres Einflussbereichs zu liegen scheinen. Klar ist aber auch, dass wir irgendwie mit all diesen Geschehnissen verwoben sind; und dass auch in unserer Gesellschaft Stabilität verloren zu gehen scheint und vermeintliche Sicherheiten brüchig werden. Wie gehen wir damit um?
Drei wichtige Aspekte des Menschseins laufen ständig in uns ab: Wir nehmen wahr, wir setzen unsere Wahrnehmungen in Erfahrungen um und wir drücken uns entsprechend unserer Erfahrungen aus. Ziel sollte es sein, dass unsere Wahrnehmungen nicht oberflächlich bleiben, sondern zu einer wertvollen Erfahrung werden, aus der heraus wir uns konstruktiv ausdrücken können.
Der moderne Mensch in unserer schnelllebigen Gesellschaft tendiert dazu, sich auf den Selbstausdruck zu stürzen, ohne zuerst in Ruhe wahrzunehmen und die Wahrnehmung in eine tiefe Erfahrung umzuwandeln. So sitzen wir beispielsweise im Wald und betätigen eifrig unser Handy, während wir das reiche Leben des Waldes um uns herum ausblenden. Vielleicht sollten wir uns darin üben, uns wieder mehr auf die Wahrnehmung unserer Umwelt zu konzentrieren, um die Welt klar und differenziert zu erleben und sie aus dieser Erfahrung heraus überlegt zu gestalten, anstatt uns vom menschlichen Drang, uns ständig auszudrücken, vereinnahmen zu lassen.
Wie ist das gemeint? Der amerikanische Autor und Podcaster Aubrey Marcus erinnert uns daran, wer wir sind: „Irdisches Wesen... Du bestehst aus 84 Mineralien, 23 Elementen und 30 Litern Wasser, verteilt auf 38 Billionen Zellen. Du bist aus dem Nichts entstanden, gebaut aus den Bestandteilen der Erde, die du konsumierst, nach einer Anleitung, die in einer Doppelhelix versteckt ist und klein genug, um von einem Spermium transportiert zu werden. Du bestehst aus recycelten Schmetterlingen, Pflanzen, Steinen, Bächen, Brennholz, Wolfsfellen und Haifischzähnen, die in ihre kleinsten Bestandteile zerlegt und wieder zusammengesetzt wurden, um das komplexeste Lebewesen unseres Planeten zu bilden. Du lebst nicht auf der Erde. Du bist die Erde.“ Wie wäre es, wenn wir in diesem Bewusstsein leben könnten?
Ich habe gerade eine schöne Kanada-Reise hinter mir, die anders verlaufen ist als geplant. Eigentlich sollte ich nur ganz kurz in Kanada sein, und dann mit meiner Freundin Martha, die dort lebt, zu einer Hochzeit in die USA fahren. Die Grenze befindet sich in einer idyllischen Gegend am St. Lawrence-Strom, wo rund 1.800 Inseln unterschiedlicher Größe bilderbuchartig und wie von göttlicher Hand lässig in den gigantischen seeartigen Fluss gewürfelt liegen. Wir fuhren also über die lange Brücke in Richtung USA, nur um vom US-Grenzbeamten zu erfahren, dass seit kurzem neue Regeln für EU-Touristen gelten, und ich nun also auch für die Einreise auf dem Landweg im Vorfeld eine elektronische Einreiseerlaubnis hätte beantragen müssen, deren Erteilung in der Regel zwischen drei Stunden und drei Tagen dauert – es werden „Background Checks“ durchgeführt. In einer filmreifen Szene wurden wir zu unserem Auto eskortiert und es wurde sichergestellt, dass wir brav einen U-Turn machten und zurück nach Kanada fuhren. Auf dem ersten Parkplatz habe ich dann den Antrag per Handy gestellt und dachte, das geht schnell durch. Dem war nicht so. Es hat am Ende über vier Tage gedauert und wir mussten die Hochzeit sausen lassen.
Also sind wir in der wunderschönen Gegend auf der kanadischen Seite geblieben, haben uns eine kleine Hütte an einem idyllischen See gemietet, und ein Freund aus New York, den wir eigentlich besuchen wollten, ist kurzerhand zu uns gekommen. Wir merkten auch relativ schnell, dass wir zwar sehr gerne zur Hochzeit unserer Freundin gefahren wären, aber auch ziemlich urlaubsreif waren, und es so am Ende erholsamer war.
Was wir dort erlebt haben, war magisch. Gerade als europäische Städterin wird man im vergleichsweise dünn besiedelten Kanada, wo die Natur außerhalb der Städte in einer Weise zu dominieren scheint, wie ich es aus Mitteleuropa nicht kenne, daran erinnert, wie sehr wir Teil der Natur sind. Wir waren in Gegenden, in denen kaum Menschen unterwegs waren und man wenig anderes hörte als eine dichte Geräuschkulisse aus Vogelzwitschern, Gänseschreien, Froschquaken, Blätterrascheln und Grillenzirpen; wo man zwischen See, Waldboden und Blätterdach auf Schritt und Tritt handtellergroßen Schmetterlingen, bunten und zahmen Vögeln, harmlosen Schlangen, Waschbären, Streifenhörnchen, Groundhogs (eine Murmeltierart), Raubvögeln, Kröten, Libellen, Käfern und natürlich Moskitos begegnet, die uns alle überwiegend freundlich und aufgeschlossen zur Kenntnis zu nehmen schienen; wo zwischen den üppigen Düften der Flora und des frühlingshaften Waldes gelegentlich auch der beißende Geruch eines Stinktiers wahrzunehmen war. All das hat etwas mit uns gemacht. Man kann sich dem nur schwer entziehen. Der Fokus auf das Wahrnehmen scheint dort automatisch zu passieren. Ich hatte das Gefühl, dass alle meine Sinne geschärft wurden. Es flößt einem Respekt vor der Natur ein. Auf eine positive und erhebende Weise.
Wenn ich die Aussage von Aubrey Marcus vor diesem Hintergrund betrachte, wird mir immer klarer, dass die Welt mehr Respekt braucht. Dass wir mehr Respekt vor der Natur und ihren Elementen, aus denen wir bestehen, kultivieren müssen. Und dass wir wieder besser lernen müssen, jeden Ausdruck von Leben zu respektieren. Jeden. Also auch alle Menschen. Ob wir sie mögen oder nicht. Wenn man in die sozialen Medien schaut, wird besonders deutlich, dass in unserer Gesellschaft das Bewusstsein dafür abhandenkommt, dass Respekt – die Achtung oder Wertschätzung einer Person, einer Meinung oder einer Lebensweise – ein Wert ist, der zusammen mit Anerkennung, Akzeptanz und Toleranz eine zentrale Grundlage und Handlungsmaxime für ein friedliches und erfolgreiches Zusammenleben in offenen Demokratien darstellt.
Und wenn ich mir die Konflikte, Kriege und Kriegsherren in der Welt anschaue und die Art und Weise, wie wir Menschen seit der industriellen Revolution die Natur ausbeuten, dann scheint mir eine der Hauptursachen für all das mangelnder Respekt zu sein. Meiner Erfahrung nach hat der Mangel an Respekt gegenüber anderen Menschen, Tieren und der Natur viel mit einem Mangel an Selbstrespekt zu tun. Wenn das stimmt, dann scheint dieser Mangel an Selbstrespekt ziemlich weit verbreitet zu sein. Woher kommt er?
Ich beschäftige mich schon seit einiger Zeit mit dem Einfluss autoritären Denkens, autoritärer Erziehung und autoritärer Regierungsformen auf unsere Welt, wie sie in Europa seit Jahrhunderten vorherrschten, im Terrorregime der Nazis ihren schrecklichen Höhepunkt fanden und bis heute nachwirken. Unsere Großeltern und zum Teil auch unsere Eltern wurden noch autoritär erzogen. Autoritäre Erziehung und autoritäres Denken basieren auf der Vorstellung, dass es natürliche Hierarchien gibt und dass sich die individuellen Bedürfnisse der Einzelnen, insbesondere der Schwächeren, einer starren (oft ideologisch geprägten) Vorstellung von richtig und falsch unterzuordnen haben.
Besonders aufschlussreich finde ich in diesem Zusammenhang das Buch Erziehung prägt Gesinnung von Herbert Renz-Polster, der belegt, dass ein recht zuverlässiger Indikator dafür, welche Art Partei jemand als Erwachsener wählt, ist, ob er als Baby beim Schreien eher in den Arm genommen und liebevoll getröstet wurde oder ob man ihn schreien ließ. Im autoritären Denken gilt es oft als verweichlicht, auf die Bedürfnisse von Kindern, selbst die von Säuglingen, einzugehen. Es geht darum, Kinder von Geburt an abzuhärten und auf eine lebensfeindliche Realität vorzubereiten, die keine Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse nimmt. Es ist eine Schwarz-Weiß-Welt ohne Nuancen. Babys lernen unter Umständen sehr früh, dass ihre Bedürfnisse in dieser gefühlskalten Welt keinen Respekt verdienen, dass das Leben unsicher und ein Kampf ist, dass liebevolle Zuwendung Mangelware ist und dass man sehen muss, wo man bleibt. Oft erscheint es dann sicherer, Gefühle zu unterdrücken und sich unterzuordnen. Im Extremfall kann dann jede Art von Veränderung als existenzbedrohend empfunden werden und den Wunsch nach autoritären Führungspersönlichkeiten nähren.
Diesem Denken liegt ein Missverständnis zugrunde. Kinder testen von Natur aus Grenzen aus. Ihnen liebevoll Grenzen aufzuzeigen, ist ein Zeichen von Respekt und hilft ihnen, ihre Impulse und Emotionen in der Gesellschaft ausgeglichen und angstfrei regulieren zu lernen. Das schafft Raum für Vertrauen, freie Entfaltung und ein gleichberechtigtes Miteinander. Nicht, dass dies für Eltern immer einfach wäre. Es gibt nicht immer ein klares Richtig oder Falsch in der Erziehung. Aber die Bedürfnisse und Emotionen von Kindern zu ignorieren, schlechtzureden oder gar zu bestrafen, ist in jedem Fall destruktiv, kann zu mangelndem Selbstwertgefühl führen und die bestehenden Muster verstärken, nach dem Motto: „Wenn meine Bedürfnisse nicht legitim sind, darf ich auch die von anderen Menschen mit den Füßen treten.“ So kann Gewalt entstehen. Man kann sagen, dass Autoritarismus eine Ideologie der Respektlosigkeit und der Empathielosigkeit ist. Ich glaube, dass diese Dynamik bei vielen Problemen und Konflikten in der Welt eine entscheidende Rolle spielt.
Ich möchte gerne daran glauben, dass, wenn wir verstehen, dass autoritäre Denkweisen soziale und historische Konstrukte sind, die uns nicht dienen, wir sie und ihre Schatten, die wir vielleicht noch in uns tragen, überwinden können. Dass, wenn wir unsere Wahrnehmung schärfen und uns in der Natur, in der Pflanzenwelt, in der Tierwelt und in unseren Mitmenschen intensiver wiedererkennen, der Dreiklang „Wahrnehmen – Erleben – Ausdrücken“ in gelebten Respekt münden kann. Wie auch in das Bewusstsein, dass unsere körperliche Existenz zu 100 Prozent aus Naturelementen besteht, die wir von der Natur nur auf Zeit geliehen haben und eines Tages zurückgeben werden. Und vielleicht, wenn immer mehr Menschen in diesem Bewusstsein leben, gewinnt der Respekt mit der Zeit die Oberhand und das Gefühl, zunehmend „im falschen Film“ zu sein, kann wieder verschwinden.