Frieden

In den letzten Jahren herrschte in der Adventszeit Krisenstimmung in der Gesellschaft, wegen der Pandemie, den Kriegen in der Welt und anderem mehr. Leider sieht es auch in diesem Jahr nicht gut aus. Die Kriege und das damit verbundene Leid nehmen kein Ende, Regierungen diesseits und jenseits des großen Teichs sind im Umbruch – wohin die Reise führt, ist ungewiss.

Und mittendrin feiert die halbe Welt Weihnachten, das Fest der Liebe und des Friedens. Vor zwei Jahren habe ich an dieser Stelle darüber geschrieben, wie wichtig Geschichten und eine positive Vorstellungskraft für die Zukunft sind. Letztes Jahr ging es darum, dass Jesus sich von den Mächtigen nichts vormachen ließ, ihre Narrative – wie man neudeutsch sagt – entlarvte und sich damit unbeliebt machte.

Dazu passt, was ich neulich von dem israelischen Historiker Yuval Noah Harari hörte: Er sagte, dass Menschen in Wirklichkeit nie um Territorien Krieg führen, sondern um Narrative, um Fiktionen. Sowohl in Israel als auch in Russland bzw. der Ukraine gebe es mehr als genug Land für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen und Gruppen, die dort leben und leben wollen. Es gehe vielmehr um die Deutungshoheit. Als Beispiel nennt er seine Arbeitsstätte, Jerusalem, einen der umkämpftesten Orte der Menschheitsgeschichte. Nüchtern betrachtet sei Jerusalem eine gewöhnliche Stadt wie jede andere, mit Menschen und Geschäften und Tauben und Abfall auf den Straßen. Aber in der Vorstellung der Menschen sind die Steine dort keine gewöhnlichen Steine, sondern heilige Steine, weil sie in Jerusalem liegen, dem Ort der Propheten, der Engel, der Heiligen. Es sind die unterschiedlichen Geschichten über Jerusalem, die es in den Köpfen der Menschen zu einem heiligen und umkämpften Ort machen.

Und es sind die Kriegsherren der Welt, die es verstehen, die vorhandenen Erzählungen für ihre Zwecke zu nutzen oder neue Fiktionen zu stricken, die sie propagieren, in die Köpfe der Menschen pflanzen und nicht selten Hass damit säen oder schüren, um ihre eigene Macht zu erhalten oder zu vergrößern. Die eigentliche Gefahr, so Harari, geht nicht von dem aus, der weiß, wie man eine Bombe baut oder wirft, sondern von dem, der Personengruppen rhetorisch entmenschlicht und das Narrativ von Freund und Feind, von Opfer und Täter, von einem höheren, oft nationalistisch oder auch extremistisch religiös gefärbten Zweck beherrscht und befeuert und so die Bombenbauer und Bombenwerfer dazu bringt, in seinem Sinne zu handeln. Und wer die Geschichten nicht glaubt, sie gar öffentlich anzweifelt, hat in vielen Fällen – vorsichtig ausgedrückt – keinen guten Stand.

Eigentlich wissen wir alle, dass es weder in Russland, noch im Nahostkonflikt, noch im Zweiten Weltkrieg, noch in irgendeinem anderen Konflikt auf der Welt primär um Territorium geht oder ging, sondern darum, wer das Sagen hat, wer das Narrativ bestimmt – und wer dabei aufgewertet und wer abgewertet wird. Wer am Ende der „Hauptbestimmer“ und wer der „Underdog“ ist.

Was können wir als Einzelne tun, um dem entgegenzuwirken? Spontan fällt mir die Methode der „Drei Tore“ ein, deren Urheberschaft einer Vielzahl von Philosophen und Mystikern, von Sokrates bis Buddha, zugeschrieben wird, und die eine ethische Kommunikation fördern soll. Die geht so: Bevor man eine Aussage trifft, stelle man sich drei Fragen: 1. Ist die Aussage wahr? 2. Ist sie notwendig? 3. Ist sie freundlich?

Auf diese Weise wird das Bewusstsein dafür geschärft, dass das gesprochene Wort Gewicht hat. Auch wenn die Methode für die eigene Kommunikation gedacht ist, kann man sie genauso zur Analyse der Narrative verwenden, die die Kriegsherren ihren Völkern auftischen. Ich fürchte, es gibt in diesem Zusammenhang derzeit nur wenige Aussagen, die nicht schon am „Ist die Aussage wahr?“-Tor scheitern. Man sollte mit dieser Methode aber auch immer mal wieder die Statements von demokratisch denkenden Politikerinnen und Politikern, Wirtschaftsbossen und anderen Menschen in Machtpositionen prüfen und unbedingt auch die Aussagen derer, deren Ansichten man teilt. Denn es besteht immer die Gefahr, dass man vor lauter Überzeugung vergisst, sich an die eigene Nase zu fassen und sich zu fragen, ob das, was man vertritt, wirklich wahr und auch gut und hilfreich für die Menschen und die Welt ist.

Ich fürchte aber, dass in unserer Welt gerade eher das Gegenteil passiert. Besonders durch die sozialen Medien werden einseitige und „unethische“ Erzählungen millionenfach verbreitet und verstärkt. Es wird gezielt manipuliert und Konflikte werden geschürt. Manchmal ist das von geradezu absurder Offensichtlichkeit – Stichwort “Migranten in Springfield, Ohio, essen die Hunde und Katzen auf.” Und manchmal ist es subtil und wir merken es nicht. Kein Einzelner kann diese Dynamik stoppen, aber wir können Verantwortung dafür übernehmen, Narrative als solche zu indentifizieren und zu hinterfragen. Und wir, die wir in demokratischen Gesellschaften leben, haben glücklicherweise die Möglichkeit, dies auch öffentlich zu tun.

Ich glaube, dass der Mensch Geschichten braucht wie die Luft zum Atmen. Die Frage ist jeweils nur, dient eine Geschichte der Inspiration, der Entwicklung des Menschen, der Ästhetik, der Unterhaltung, der positiven Sinnstiftung oder aber – wie bei Kriegsherren und oft auch bei anderen Machtmenschen – der Manipulation? Es geht darum, Fiktionen als solche zu erkennen und sich bewusst zu machen, wie sie in verschiedenen Diskursen eingesetzt werden, um Krieg, Hass, Gewalt und Ausgrenzung zu schüren – oder schlicht um in der Öffentlichkeit gut dazustehen, Klicks zu generieren oder Wahlen zu gewinnen. Macht es dabei einen Unterschied, ob die Urheber der Erzählungen diese selbst glauben oder ob sie sie bewusst einsetzen? Unterm Strich wohl eher nicht.

Zum Thema Frieden fällt mir auch eine Weisheit des großen buddhistischen Mönchs und Autors Thich Nhat Hanh ein. Er sagte: „Frieden und Versöhnung zu praktizieren, ist eine der lebenswichtigsten und kunstvollsten menschlichen Tätigkeiten.“ Dahinter steht die Vorstellung, dass Frieden kein Ziel ist, sondern eine Praxis, die im Inneren des Menschen beginnt und geübt und kultiviert werden muss. Für mich persönlich ist die Übung des inneren Friedens, sei es durch Meditation, Heilmethoden oder andere Praktiken, immer auch eine Übung im Bewusstsein, dass uns rund acht Milliarden Menschen auf der Erde mehr verbindet als trennt. Wir bestehen alle aus demselben genetischen Bausatz, wir teilen die menschliche Erfahrung – Geburt, Krankheit und Tod, den Wunsch nach Sicherheit, Anerkennung, Liebe, Freundschaft, Geborgenheit, Selbstausdruck und einer freundlichen Welt für unsere Kinder. Wir alle erleben eine Bandbreite von Gefühlen wie Angst, Schmerz, Freude, Leid, Glück, Trauer oder Liebe. Das macht unser gemeinsames Menschsein aus. Alles, was uns hingegen trennt oder zu Feinden macht – Nationalitäten, Religionszugehörigkeiten, Überzeugungen, Fremdheit, historische Animositäten – sind, menschheitsgeschichtlich gesehen, relativ junge kulturelle Konstrukte, Narrative, die wir spaltend oder versöhnend weiterentwickeln können. Wir haben die Wahl.

Bald ist Weihnachten. Das Geburtstagskind, Jesus, hatte natürlich auch Vorstellungen, wie die Menschheit friedlich werden könnte – neben der Nächstenliebe predigte er: „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.“ (Matthäus 5,44). Dazu nun die Probe aufs Exempel: 1. Wohnt der Aussage Wahrheit inne? Irgendwie schon. 2. Ist sie notwendig? Ganz bestimmt. 3. Ist sie freundlich? Auf jeden Fall. Glückwunsch, liebes Geburtstagskind, du hat den Test der ethischen Kommunikation bestanden.

Ist die Aufgabe, die Jesus uns da gestellt hat, leicht? Sicher nicht. Aber bald haben wir wieder ein neues Jahr, um inneren und äußeren Frieden zu üben und daran zu arbeiten, dass die Übung Früchte trägt.