Die Frage „Wer bin ich?“ bewegt uns Menschen von Kindheit an, bewusst oder unbewusst. Denn wir wollen dazugehören – weil das evolutionär unser Überleben sichert. Gleichzeitig wollen wir uns als Individuen abgrenzen. Denn um die Frage beantworten zu können, wer wir sind, müssen wir auch wissen, wer wir nicht sind. Und wir wollen wissen, wo wir aufhören und wo unser Gegenüber anfängt. Und dann sind wir ganz schnell bei der Frage, wie wir uns definieren, bzw. womit und worüber wir uns identifizieren – und da wird es interessant.
Als ich anfing, über dieses Thema nachzudenken, fiel mir als erstes die Kultwerbung der Sparkasse von 1995 ein, „Mein Haus, mein Boot, mein Auto“. Ich dachte auch an eine Mitschülerin in der ersten Klasse, die sich mir mit den Worten vorstellte: „Ich heiße X und mein Papa ist Y von Beruf.“ Oder an eine neue Mutter in der Krabbelgruppe meiner Tochter, die mir die Hand entgegenstreckte und sagte: „Ich heiße XY und ich bin Schauspielerin.“ Oder an einen Herrn in einem Gremium, der sich mit den Worten „Ich heiße XY und ich bin Aktivist“ einführte.
Warum neigen wir dazu, uns ungefragt so eng zu definieren? Wir sind in erster Linie vom ersten bis zum letzten Atemzug Mensch. Und alles, was dazwischen passiert, und womit wir uns typischerweise identifizieren – unsere Herkunft, unser Beruf, unsere Position, unsere Familie, unser Kontostand, unsere politische Heimat, unser Engagement, unsere Religionszugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit, unser Alter, unser Geschlecht, unsere Orientierung, unser Lieblingsfußballverein, unsere Erfahrungen, unser Körper, unsere Meinungen oder auch der Porsche oder das E-Bike vor der Tür –, das ist in gewisser Weise nur Kosmetik. Vieles davon ist vergänglich und vieles sind kulturelle Konstrukte. Denn selbst biologisch begründete Aspekte wie Alter oder Geschlecht sind in hohem Maße kulturell geprägt und wandelbar. Man muss sich nur Werbung aus den 50er Jahren angucken, um zu erkennen, wie sehr sich die Vorstellungen davon, was es bedeutet, eine Frau zu sein, jung zu sein oder alt zu sein, verändert haben.
Ich las neulich von einem weisen Menschen, der sagte, er habe sich anders entwickelt als sein Umfeld, weil er früh aufgehört habe, sich mit irgendetwas zu identifizieren, einschließlich Eltern und Familie. Da kam ich ins Grübeln, womit ich mich alles identifiziere und was es bedeuten würde, dies nicht zu tun. Also habe ich angefangen, spielerisch zu beobachten, wie und womit sich Menschen im Alltag identifizieren, wie sich das äußert und wie ich das mache. Und ich habe geübt, mich immer dann bewusst zu de-identifizieren, wenn ich merke, dass ich mich gerade sehr stark mit einem Aspekt meines Lebens identifiziere. Das fängt schon bei der Wortwahl an. Es fühlt sich anders an, ob ich sage, „Ich habe Anglistik studiert“ oder „Ich bin Anglistin“. Es fühlt sich anders an, ob ich sage, „Ich bin in Deutschland aufgewachsen“ oder „Ich bin Deutsche“. Denn ehrlich gesagt: Was bedeutet es überhaupt, deutsch zu sein? Allein diese Frage ist ein echtes Wespennest.
Heutzutage müssen wir uns nicht mehr unbedingt mit unserem „Stamm“ identifizieren, um zu überleben. Dennoch scheint es ein großes Bedürfnis zu geben, sich mit allem Möglichen zu identifizieren – und seien es nur Statussymbole. Das liegt zum einen sicher daran, dass in der Leistungsgesellschaft Ansehen über diese Aspekte definiert wird, oft verbunden mit Macht und Kaufkraft. Wir alle ordnen eine Person anders ein, wenn wir wissen, ob sie z. B. Geschäftsführerin oder Putzkraft ist.
Fast noch wichtiger scheint mir aber, dass sehr viele Menschen in diesen Identifikationspotenzialen Halt suchen und finden. Gerade Menschen, die sich ohne all diese Attribute vielleicht leer, schwach, wertlos oder unsichtbar fühlen oder ohne starke Gruppenzugehörigkeit in dieser komplizierten, chaotischen Welt nicht zurechtkommen. Die sozusagen keine eigene innere Identität finden, die ihnen Halt gibt. Und ich glaube, das ist sehr weit verbreitet, es betrifft uns alle in unterschiedlichem Maße. Was wären wir denn, wenn uns alles genommen würde, worüber wir uns definieren?
Ist es also falsch, sich zum Beispiel Gruppen anzuschließen? Sicher nicht. Es geht darum, ein bisschen Distanz zu schaffen, wo keine vorhanden ist. Denn wenn die Identifikation so stark ist, dass der Selbstwert oder das Selbstbild wesentlich davon bestimmt wird, besteht die akute Gefahr, dass das Weltbild sehr eng wird und in der Folge alles, was anders ist, als minderwertig oder gar als Bedrohung der eigenen Identität erlebt wird. Dies kann im Extremfall zu ideologisch völkischem und menschenverachtendem Denken und Handeln führen. Es kann zu Ablehnung, unnötigem Konkurrenzdenken oder auch zu Bandenkriegen, Klan-Fehden, Hooligan-Gewalt, Ausgrenzung, Diskriminierung und Krieg führen. Und aus solchen Konflikten geht mit Sicherheit niemand jemals als glücklicher Gewinner hervor.
Anfang des Monats habe ich hier auf dem Augsburger Rathausplatz gemeinsam mit mehreren zehntausend Menschen an der Kundgebung gegen rechts teilgenommen. Es war insgesamt eine harmonische, ermutigende Kundgebung, sehr bunt, sehr friedlich, sehr angenehm. Überall wehten Fahnen von allen möglichen Organisationen oder Gruppen und es gab viele gute Schilder mit Statements aller Art. Ich habe auch überlegt, ob ich etwas mitnehmen soll. Aber dann dachte ich mir, dass ich zu einer Demonstration für die Menschenwürde am liebsten einfach als Mensch gehe, ohne Label, Fahne, Statement oder sonstiges Attribut.
Ich merke, je mehr ich mich darin übe, meine Identifikationspunkte zu erkennen und loszulassen, desto mehr Möglichkeiten habe ich. Je weniger ich mich in irgendeiner Weise definiere, desto weniger ist mein Gegenüber „anders“ oder „fremd“ – das ist sozusagen ein Schlüssel zur Aufgeschlossenheit, die sich hoffentlich überträgt.
Es geht nicht darum, seine Werte aufzugeben oder sich von Dingen, Ideen, Leidenschaften oder Gruppen abzuwenden, die einem wichtig sind. Es geht vielmehr darum zu vermeiden, dass man seine Identität aus diesen Dingen zusammensetzt und keine andere mehr hat. Es geht auch darum zu erkennen, dass die Identität „Mensch sein“ ausreicht und unglaublich stark sein kann; dass wir im Idealfall allein aus unserem Sein heraus die Welt gestalten können, anstatt eine Identität im Außen zu suchen und dann die Welt dieser Identität anpassen zu wollen. Sonst glaubt man am Ende noch an eine Ideologie der „Remigration“ als der Weisheit letzter Schluss.
Und wie findet man diese innere Stärke und Identität? In östlichen Traditionen wird dem Singen oder Wiederholen von Mantras eine große Kraft zugeschrieben. Ziel eines Mantras ist es, den Geist zu beruhigen, sich zu konzentrieren oder Gewohnheiten zu durchbrechen. Ein besonderes Mantra ist das „Ich bin“- oder „So Ham“-Mantra. Es gilt als eines der kraftvollsten Mantras überhaupt. Das Interessante daran ist, dass wenn du anfängst „Ich bin“ zu denken, zu singen, zu atmen oder damit zu meditieren, dein Geist sofort fragt, „Ich bin… was?“ und vielleicht automatisch alle möglichen Kategorien durchspielt. Mit der Zeit ändert sich das aber. Der Geist und der ganze Organismus begreifen, dass „Ich bin“ als Aussage so mächtig und allumfassend ist, dass alles, was danach käme, klein und einschränkend wirken würde. Das ist sehr kraftvoll und kann immer wieder neu geübt werden.
Einziges Problem: Wenn du dich das nächste Mal in einer neuen Gruppe Menschen vorstellen sollst, die alle routiniert in drei Stichworten zusammenfassen, wer sie sind, könnte es sein, dass du nach „Ich bin…“ ins Stottern gerätst, weil das für dich alles irgendwie zu kurz greift. Das kann vielleicht für den Moment peinlich, bestenfalls aber auch befreiend sein.