Beim Blick in die Welt zeigt sich aktuell besonders deutlich, wie sehr an allen Ecken und Enden ein Kampf um Dominanz tobt: Wer hat das Sagen? Wer setzt sich durch und mit welchen Mitteln?
Speziell beim Gedanken an die kriegerischen Auseinandersetzungen wird es vielen Menschen derzeit ganz anders: Wie kann man nur so viel Gewalt, Leid und Zerstörung in Kauf nehmen, um anderen Menschen, einem anderen Volk, einem anderen Land, seinen Willen aufzuzwingen?
Um Dominanz geht es natürlich nicht nur im Krieg, sondern zum Beispiel auch beim Handel, beim Zugang zu Rohstoffen, Parteipolitik usw. Wo haben diese großen Machtbestrebungen ihren Ursprung? Und was hat das mit jedem Einzelnen von uns zu tun?
Die einfache Antwort lautet: Es ist menschlich und normal, sich in gewissen Situationen zu wünschen, man hätte das Sagen und andere Menschen mögen sich doch einfach unserem Willen beugen. Das ist nicht automatisch ein Zeichen von Tyrannei. Es ist oft gut gemeint, motiviert von der Überzeugung, dass es so für alle Beteiligten am besten wäre oder das Leben einfacher machen würde – in der Beziehung, in der Familie, am Arbeitsplatz. Und wenn wir uns an die eigene Nase fassen, stellen wir vielleicht fest, dass wir diesen Wunsch manchmal in die Tat umsetzen und (meistens nahestehenden) Menschen mehr oder weniger sanft unseren Willen aufzwingen.
Ist das in Ordnung, wenn es gewaltfrei und mit guter Absicht geschieht? Dies ist eine anspruchsvolle ethische Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt. Es ist aber in jedem Fall sinnvoll, sich über die Dominanzmuster im eigenen Leben Gedanken zu machen: Wo und mit welcher Motivation verhalte ich mich gegenüber anderen Menschen dominant? Wo ordne ich mich dem Willen anderer unter und warum? Wie fühle ich mich dabei? Und wo pflege ich Beziehungen auf Augenhöhe? Wenn wir darüber Klarheit haben, können wir etwas verändern.
Wie funktioniert Dominanz? Sie ist immer von innen nach außen gerichtet. Sie entspringt dem inneren Bedürfnis, die Außenwelt nach dem eigenen Willen und den eigenen Vorstellungen zu formen. Anders verhält es sich bei dem Wunsch nach persönlichem „Wachstum“, das in erster Linie auf innere Veränderung durch Erfahrung setzt. Während Akzeptanz ausgeglichene Beziehungen anstrebt, lebt Dominanz von einem Ungleichgewicht in der Beziehung – der eine gibt den Ton an, der ander folgt.
Man könnte meinen, dominante Menschen seien die geborenen Chef:innen, Politiker:innen, und Wirtschaftsbosse – und in diesen Rollen sind sie sicherlich oft anzutreffen. Sie sind häufig durchsetzungsstark, gehen ihren Weg und erreichen ihre Ziele. Aber ist das gut für die Welt?
Es darf unterschieden werden zwischen „dominieren“ und „führen“. Dominanz ist von Natur aus egozentrisch und wenig mitfühlend – und diese Kultur ist destruktiv und spiegelt sich überall in unserer Welt wider. Dinge werden teils mit fragwürdigen Mitteln gegen Widerstände durchgesetzt.
Effektiver und „nachhaltiger“ als dominante Verhaltensweisen ist echte Führung, also das Umfeld nicht zugunsten der eigenen Vorstellungen und Ziele zu manipulieren, sondern Menschen positiv zu motivieren und zu inspirieren für ein gemeinsames größeres Ziel. Dazu braucht es Integrität, transparente Entscheidungsprozesse, Verantwortungsbewusstsein und vor allen Dingen Respekt – gegenüber anderen Menschen und sich selbst. Es bedeutet auch, unterschiedliche Perspektiven zuzulassen und einzubeziehen, Widerspruch auszuhalten und gegebenenfalls die eigene Position zu überdenken.
Der autoritären und diktatorischen Denkweise sind demokratische Prozesse inklusive Konsens und Kompromiss ein Gräuel und gelten als Zeichen von Schwäche. Dort lautet das Motto, „Du tust es, weil ich es sage – basta.“ Das ist manchmal die einfachste Lösung, wie jede Mutter und jeder Vater weiß, aber sie ist auf Dauer nicht nachhaltig. Sie verhindert eine gesunde und stabile Beziehung oder Kultur.
Was können wir also tun, um ungute Dominanzverhältnisse in unserem Leben zu verändern? Zunächst ist es wichtig zu akzeptieren, dass solche Strukturen und Beziehungen kein Zufall sind. Sie basieren auf sozialen Mustern, die wir meistens in der Kindheit erlernt, möglicherweise schon von unseren Eltern und Großeltern übernommen haben. Als Kinder akzeptieren wir unsere Erfahrungen und die Reaktionen unserer Bezugspersonen als richtig und wahr, weil wir noch keinen Referenzrahmen für Sozialverhalten haben – wir können nicht beurteilen, ob das Verhalten unserer Eltern angemessen ist. Dadurch können mächtige Muster entstehen, die unser Leben prägen. Solche Muster sind individuell und meistens vielschichtig.
Darüber hinaus spiegeln Beziehungen oft unser Selbst. Wir ziehen unbewusst das in anderen Menschen an, was wir benötigen, um uns entwickeln zu können, um zu heilen und Balance zu finden. Schwierige Beziehungen spiegeln uns unsere eigenen Themen – sie bieten Gelegenheit für Wachstum. So gesehen ergibt es auch keinen Sinn, das Verhalten anderer verändern zu wollen, um Zufriedenheit zu erreichen – wir verändern uns schließlich auch nicht, wenn wir unser Spiegelbild manipulieren. Wenn es um schwierige Beziehungen geht, dürfen wir also immer bei uns selbst anfangen und darauf hinwirken, die eigenen Muster und Verhaltensweisen zu verstehen und zu verändern.
Wie geht das? Wenn du dazu neigst, anderen Menschen deinen Willen aufzudrängen, das aber eigentlich nicht möchtest, wäre ein Ansatzpunkt, aktiv das Gegenteil zu üben: indem du bewusst die Bedürfnisse der anderen Person wahrnimmst und respektierst, dich ihr wertschätzend zuwendest und ihr zuhörst; indem du dir Ziele setzt, die nicht selbstbezogen oder machtorientiert sind, sondern einem größeren Zweck dienen; indem du dich fragst, worum geht es mir wirklich, wenn ich das Sagen haben will? Ist es zu einem Automatismus oder Selbstzweck geworden? Brauche ich es zur Selbstbestätigung? Von wem habe ich dieses Verhalten vielleicht übernommen und warum? Welche Angst, Schwäche, Unsicherheit oder unschöne Erfahrung will ich vielleicht damit kompensieren? Wie würde sich die Situation verändern, wenn ich der Person auf Augenhöhe begegne? Wenn ich ihr ihren eigenen Weg zugestehe? Wenn ich zurückstehe oder einen Kompromiss eingehe?
Die Kehrseite der Dominanz ist Unterwerfung. Dominante Menschen umgeben sich gerne mit ehrerbietigen Menschen, die sich nicht durchsetzen – vielleicht weil sie Angst vor Verantwortung, Strafe, Gewalt und Ablehnung haben oder aus Gewohnheit, Unsicherheit, Mangel an Halt, Selbstrespekt, Mut usw. Oft sind auch dies erlernte Muster oder Konditionierungen aus der Kindheit. Das kann bis hin zu psychologischen Abhängigkeiten gehen. Wenn man sich aus einer solchen Beziehung befreien will, darf man ebenfalls das Gegenteil üben. Sich also fragen, was sind meine eigenen Bedürfnisse? Was passiert, wenn ich zu diesen Bedürfnissen stehe? Wenn ich lerne, mich abzugrenzen und nein zu sagen? Wie verändern sich die Menschen um mich herum, wenn ich mich entsprechend wandele?
Wenn ein Mensch zu Dominanz oder zu Unterwürfigkeit (oder zu beidem) neigt, lebt er prinzipiell in einem Ungleichgewicht. Pflegt er viele Beziehungen mit unterschiedlichen Dominanzstrukturen, kann das sehr viel Kraft kosten, die anderswo fehlt, was die Lebensqualität einschränkt. Ziel sollte dann sein, in möglichst allen Beziehungen ein Gleichgewicht und Gefühl von Freiheit herzustellen, egal wie unterschiedlich die Rollen und Aufgaben der Beteiligten sind.
Besonders komplex in dieser Hinsicht ist die Beziehung zwischen Eltern und Kind – und sie ist gleichzeitig eine der wichtigsten und prägendsten. Über ein Neugeborenes muss entschieden werden, weil es das selbst nicht kann. Gleichzeitig dominiert es durch das lauthalse Kundtun seiner Bedürfnisse die Eltern wie kein zweiter Mensch. Das Leben mit kleinen Kindern ist eine Extremform von komplex ineinander verwobenen asymmetrischen Dominanzverhältnissen und Machtspielen. Wer schon einmal den Zorn eines willensstarken Zweijährigen an der „Quengelware“ im Supermarkt erlebt hat, weiß Bescheid.
Und während die Kinder groß werden, ist es aus meiner Sicht eine der anspruchsvollsten Aufgaben überhaupt, als Eltern die eigenen Vorstellungen Stück für Stück zurückzuschrauben, die Kinder nicht als Projektionsfläche der eigenen Träume, Wünsche und Erwartungen bzw. als Verlängerung des Selbst (und der eigenen Selbstwertthemen) zu betrachten und zu behandeln; immer bestimmt aber liebevoll zu ihnen zu stehen und sie zu unterstützen; ihren Weg zu respektieren, komme, was wolle; ihnen im Sinne Goethes „Wurzeln und Flügel“ zu geben; sie rechtzeitig loszulassen und dabei im Vertrauen zu bleiben.
Sich der Komplexität und schieren Unmöglichkeit dieser Aufgabe bewusst zu werden, kann auch helfen, eventuelle schmerzliche Erlebnisse mit den eigenen Eltern in einem anderen Licht zu sehen und ihnen zu vergeben. Vergebung ist machtvoll. Wer vergibt, befreit sich selbst – und die Eltern. Wahre empfundene Vergebung ist eine der besten Übungen im Loslassen. Dadurch werden alte Machtverhältnisse gelöst und geklärt – und Bedürfnisse nach Dominanz und Unterordnung freigesetzt. Das zu erreichen sollte uns ein wertvolles Ziel sein, um eine kooperative, friedliche und starke Welt zu schaffen.