Eins ist sicher

Seit der letzten Flaschenpost sind die Unsicherheiten in Europa und der Welt nicht gerade geringer geworden. Wie können wir damit umgehen? 

Kürzlich fiel mir ein Buch in die Hände mit dem schlichten Titel I May Be Wrong („Ich mag falsch liegen“). Das klang erfrischend anders in dieser Welt, in der das Rechthabertum Hochkonjunktur hat. Habe es sofort gelesen.

Autor ist der Schwede Björn Natthiko Lindeblad, der mit Mitte Zwanzig nach Studium und internationaler Karriere in der Finanzwelt zur Einsicht kam, dass dies nicht sein Leben sein könne. Es folgten Jahre des Reisens und Ausprobierens. Mit Ende Zwanzig informierte er seine Eltern, dass er gedenke, in ein buddhistisches Waldkloster in Thailand einzutreten. Er blieb 17 Jahre lang buddhistischer Mönch. Mit Mitte Vierzig spürte er, dass es Zeit sei, die Mönchskutte wieder gegen Jeans einzutauschen und zu neuen Ufern aufzubrechen. 

Das Buch beschreibt seine innere und äußere Reise. Es steckt voller Weisheiten und ist von entwaffnender Ehrlichkeit. Er erzählt über seine Verletzlichkeit, seine klarsten Momente, inneren Kämpfe, Schwierigkeiten mit der Meditation, den Entbehrungen, über Höhen und tiefste Täler, bevor er Mönch wurde, während er Mönch war und nachdem er das Klosterleben wieder verlassen hatte. 

Nach seiner „Rückkehr“ wurde er von einem Journalisten gefragt, was seine wichtigste Lernerfahrung aus 17 Jahren Vollzeit-Training als buddhistischer Mönch sei. Seine Antwort lautete, dass er nicht mehr automatisch all seine Gedanken glaube. Diese Fähigkeit, sich von den eigenen Gedanken zu distanzieren, sei seine Superkraft. Daher auch der Titel des Buches, I May Be Wrong.

Der Autor behandelt auch die Frage, wie wir der Unsicherheit des Lebens begegnen können. Er schreibt, oft gehe es beim Umgang mit Unsicherheit vor allem um „Präsenz“, gegenwärtig und bewusst im Moment zu verharren, wach und aufmerksam. Man lässt dann den Geist nicht ungebremst Sorgen und Eventualitäten hinterherjagen, sich in Spekulationen versteigen und in Dauerschleife hypothetische Szenarien durchspielen. Stattdessen begegnet man der Realität und ihrem Verlauf ruhigen, neugierigen und offenen Geistes – was generell zu einem befriedigenderen Ergebnis im Leben führt.

In der westlichen Welt und Lebensweise haben wir uns angewöhnt, Unsicherheit vorzubeugen und möglichst zu unterbinden, indem wir organisieren, planen, kontrollieren. Um darin immer besser zu werden, häufen wir gerne Wissen und Geld an. Aber aktuell merken wir besonders deutlich, dass wir damit an Grenzen stoßen. Die Welt dreht sich gerade immer weniger so, wie wir es uns für unser Leben und das unserer Kinder wünschen.

Es ist absolut menschlich, Sicherheit, Wissen und Kontrolle haben zu wollen. Deswegen schließen wir Versicherungen ab. Wir sind verletzliche Wesen und die Unberechenbarkeit des Lebens kann furchteinflößend sein – und wenn wir uns fürchten, können wir nicht flexibel (re)agieren. Aber eigentlich leben wir auch in vermeintlich stabilen Zeiten und trotz aller Kontrolle und Planung immer mit enormer Unsicherheit und haben das schon immer getan – das ist die Natur des Lebens und Menschseins. Keiner weiß, was kommt und wann und wie es endet. Das ist unangenehm und deswegen verdrängen wir es gerne.

Ein großer Teil spirituellen „Wachstums“ besteht darin zu lernen, positiv mit Unsicherheit umzugehen, das Leben so anzunehmen, wie es sich entfaltet, den Fluss des Lebens zu navigieren und sich dessen Dynamik anzuvertrauen statt gegenzusteuern. Ein Fluss lässt sich nur sehr bedingt festhalten und kontrollieren. Wir können zwar immer wieder Pläne schmieden, das schafft ein Stück weit Verlässlichkeit, aber wir sollten niemals verbissen darauf bauen, dass unsere Pläne aufgehen – und schon gar nicht unsere Lebenszufriedenheit davon abhängig machen; das kann eigentlich nur schiefgehen.

Denn sicher ist nur eins: Das menschliche Leben ist durch und durch unsicher. Es ist nicht nur unsicher, es ist auch ein Mysterium. Warum sind wir hier? Wie hängen die Dinge im tieferen Sinn zusammen? Warum passieren die Dinge so, wie sie passieren? Was ist Zeit? Was ist Leben? Was ist Tod? Und was bedeutet das alles? Das kann keiner so genau sagen. Sokrates’ geflügeltes Wort, „Ich weiß, dass ich nicht(s) weiß“ hat in den letzten 2000 Jahren nichts an Aktualität eingebüßt.

Die Weisheitstraditionen, Philosophien und Glaubensrichtungen aller Zeiten drehen sich eigentlich immer um genau das – Fragen des Seins, des Sinns, des Navigierens, der Unsicherheit und der Vergänglichkeit, des Mysteriums unseres Geistes und unseres physischen Daseins. Was bieten diese Traditionen uns an?

Der Apostel Paulus schrieb an die Korinther, „Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk“ – und er schließt mit den bekannten Worten „Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei.“ Ich lese daraus: Was uns jederzeit zur Verfügung steht, sind diese drei Qualitäten oder Herangehensweisen. Alle drei beinhalten per Definition Unsicherheit und lassen sich ähnlich gut greifen und festnageln, wie der Pudding an der Wand. Alle drei nehmen die Unsicherheit an und bauen auf ihr, und in allen dreien liegen Glück und Verzweiflung oft ganz dicht nebeneinander. Glaube, Hoffnung und Liebe verlangen uns viel ab, nämlich dass wir uns verletzlich machen, unserer Menschlichkeit ins Auge sehen und dem Leben vertrauen. Ist nicht immer einfach, klingt aber nach einem tollen Rezept, oder?

Hm… geht’s auch ein bisschen handfester? Zum Beispiel für Menschen, bei denen gerade Krieg herrscht und wo jede Nacht Raketen einschlagen? Ich meine, Glaube, Hoffnung und Liebe sind selbst in der verzweifeltsten Situation bessere Berater als Zynismus, Resignation und Hass, weswegen es sich lohnen könnte, sie zu üben. Und ich denke auch, wenn es uns gelingt, uns Glaube, Hoffnung und Liebe zu eigen zu machen, können daraus wirksame praktische Mittel im Umgang mit den Widrigkeiten der Welt entstehen.

Diesen Sommer ist eine ukrainische Familie in die Wohnung über uns gezogen, vier Generationen Frauen und Kinder. Sie haben uns und die anderen Nachbarn aus dem Haus kürzlich zu sich eingeladen. Es war wunderbar. Sie hatten offensichtlich den ganzen Tag für uns gekocht und haben leckerst aufgetischt. Beim Essen haben wir geredet, teils auf Englisch, teils mit Microsoft Translator, teils mit Händen und Füßen. Alle waren durchgehend hellwach und präsent, jeder wollte jedes Wort verstehen. Es gab viel zu lachen. Danach haben wir Spiele gespielt, absurde Geschicklichkeits- und Reaktionsspiele, bei denen man eher interagieren als miteinander reden musste. Es hatte was von Schullandheim. Es war lebhaft, es war einer der ausgelassensten und lustigsten Abende seit langem.

Ich kann diese Menschen nur bewundern. Sie wirken, als seien sie uns in Sachen Unsicherheit ein paar Schritte voraus dank einer harten Schule. Ihre Männer haben sich bei Kriegsbeginn sofort freiwillig zum Militär gemeldet, wünschen sich aber natürlich nichts sehnlicher, als wieder in Frieden und Sicherheit bei ihren Familien zu sein. Ihre Stadt wird derzeit täglich beschossen. Die Frauen haben hier sofort Arbeit gesucht und gefunden. Sie bauen sich, wie es scheint, unbeirrt ein Leben auf in diesem Land, dessen Sprache sie noch nicht verstehen, dessen Systeme ihnen oft mysteriös vorkommen und dessen wichtigstes Wort „Termin“ zu sein scheint, wie sie uns kichernd erzählten.

Wie sie es mit Glaube und Hoffnung halten, weiß ich nicht, und ich kann auch nicht erahnen, was sie innerlich durchmachen. Aber es herrschte eine rundherum lebensbejahende Stimmung. Das Rezept, welches ich neben guter Laune und viel Inspiration von diesen Menschen zum Thema Umgang mit Unsicherheit mitgenommen habe, lautet: jede Menge Pragmatismus, ein gerüttelt’ Maß an Trotz und eine ordentliche Prise Humor. Ich habe direkt beschlossen, mir davon eine Scheibe abzuschneiden und mitzunehmen in diesen Winter. Es ist zu wünschen, dass uns allen das, oder etwas Ähnliches, gelingen mag.