Vielleicht kennst Du noch den Refrain „Das Böse ist immer und überall…“, wienerisch dahergenäselt in dem EAV-Ohrwurm „Ba-Ba-Banküberfall“ aus den 80ern.
Wie wir wissen, wurden und werden zu jeder Zeit auf der Welt Gräueltaten verübt, und es ist oft schwer, das zu begreifen und zu verarbeiten. Sind sie Ausdruck „des Bösen“, das immer und überall ist?
Jedes Kind hat eine Vorstellung vom „Bösen“ – aber was ist das genau und gibt es das Böse überhaupt? Das Böse ist nichts, was in der Natur vorkommt. Eine Umweltkatastrophe ist von Natur aus genauso wenig böse wie ein romantischer Sonnenuntergang gut ist. Ebenso gibt es keine kosmische Kraft, die böse ist oder das Böse in die Welt bringt.
Das Böse ist eine kulturelle Kategorie und gehört allein zur Sphäre menschlichen Handelns. Wenn das Böse nichts Natürliches ist, warum verwenden wir das Konzept dann überhaupt? Warum fasziniert es uns so? Warum ist die epische Schlacht zwischen Gut und Böse der Stoff der Sagen, Märchen, Romane, Geschichtsbücher, Verschwörungsmythen und Hollywood-Blockbuster?
Vianna Stibal, die Gründerin von ThetaHealing, beschreibt die Idee des Bösen als einen evolutorisch relevanten Meilenstein in der menschlichen Bewusstseinsentwicklung. Das „Böse“ war immer eng mit Angst und Hass verbunden und wurde zur Erklärung von Naturkatastrophen und Hungersnöten herangezogen, wie auch zur Erklärung menschlichen Verhaltens, das zum jeweiligen Zeitpunkt als moralisch inakzeptabel galt. Daraus entwickelte sich mit der Zeit die Vorstellung eines dualistischen Kampfes zwischen Gut und Böse um die Vormacht in Natur und Menschheit.
Taugt uns diese Vorstellung im 21. Jahrhundert noch? Bei abendlichen Netflix-Freuden stellt sich beim Publikum eine gewisse Befriedigung ein, wenn am Ende der Bösewicht seiner gerechten Strafe zugeführt wird, das Gute obsiegt und die Welt wieder in Ordnung kommt.
Leider ist unsere Realität nicht so einfach gestrickt. Sie ist komplex und sie wird immer komplexer. Auch heute ist unser Gehirn eigentlich nicht dafür ausgelegt, täglich Bilder und Berichte über Leid, Gräueltaten und Kriege auf der ganzen Welt zu verarbeiten. Es ist für das Leben in überschaubaren Gemeinschaften gemacht, die höchstens von Nachbarstämmen bedroht werden, in glückseliger Unkenntnis darüber, was in der restlichen Welt passiert. Heute müssen wir uns in einer medial-globalisierten nuklear ausgestatteten Welt voller Konflikte, Ideologien, wirtschaftlicher Verflechtungen, kultureller Unterschiede und des voranschreitenden Klimawandels zurechtfinden – gemeinsam mit acht Milliarden Artgenossen. Mit dieser überwältigenden Komplexität klar zu kommen, ist eine Herausforderung.
C. G. Jung schrieb einmal, „Denken ist schwer, darum urteilen die meisten.“ Jemanden „böse“ zu nennen, ist ein solches Urteil, das uns das Denken ein Stück weit erspart. Durch die Schablone von Gut und Böse lässt sich die Realität vorübergehend vereinfachen, besser verarbeiten und das aus unserer Sicht inakzeptable und nicht nachvollziehbare Verhalten von Menschen erklären.
Aber warum verhalten sich Menschen grausam, skrupellos, gewalttätig? Aus Anlass des Ukraine-Kriegs schrieb Deepak Chopra neulich über diese Frage. Alle menschlichen Handlungen entspringen aus Gedanken, Gefühlen und Impulsen. Die wichtigsten Faktoren für „böses“ Verhalten sind Sozialisierungserfahrungen aus der Kindheit, sozialer Druck, ein Mangel an Selbsterkenntnis, schlechte Impulskontrolle, Wut und Gewaltpotenzial, innere Konflikte, Angst sowie irrationale Impulse.
Es ist menschlich und normal, innere Konflikte und widerstreitende Impulse in sich zu tragen und somit auch ein Potenzial für Gewalt. Die Mehrheit der Menschen verhält sich aber weder grausam noch gewalttätig – was zeigt, dass der Mensch im Schnitt stärker zu verantwortlichem Verhalten tendiert als zu Gewalt und dass er prinzipiell die Kapazität besitzt, friedliche Handlungsentscheidungen zu treffen. Die Menschheit hat sich schon immer auch um die Schwachen und Kranken gekümmert. Sehr vielen Menschen ist es wichtig, Gutes zu tun und die eigenen Kinder zu friedlichen und verantwortungsvollen Menschen zu erziehen. Studien belegen, dass der Mensch eine angeborene Kapazität zum liebevollen Kümmern hat.
Wie können wir „böses“ Verhalten – Feindschaft, Grausamkeit, Brutalität, Sadismus usw. – also begreifen und einem solchen Verhalten begegnen? Deepak Chopra nennt drei wichtige Eigenschaften dafür, die es zu üben gilt:
1. Empathie: das eigene Bewusstsein dafür entwickeln, dass jeder Mensch mit inneren Konflikten, Angst und Wut zu tun hat.
2. Selbsterkenntnis: uns innerlich selbst erforschen, um zu verstehen, warum Konflikte ausbrechen, da äußere Konflikte Projektionen innerer Konflikte sind.
3. Menschlichkeit: immer tiefer in die Quelle unseres eigenen Seins eintauchen, um ein machtvolles „Friedensbewusstsein“ zu entwickeln.
In unserer Gesellschaft ist ein solches Friedensbewusstsein im Vergleich zu früheren Zeiten bereits viel ausgeprägter. Denn auch wenn es sich aktuell nicht so anfühlt, starben in den letzten Jahrzehnten erheblich weniger Menschen in kriegerischen Auseinandersetzungen weltweit als zu den meisten anderen Zeiten. Frieden ist heutzutage für große Teile der Menschheit zum ersten Mal ein echter Wert, Krieg wird nicht mehr als unvermeidbarer Teil des Lebens verstanden, und wir tun uns zunehmend schwer, Gewalt als das erste Mittel der Wahl zur Konfliktlösung zu sehen.
Ein Mensch, der sich „böse“ verhält, ist in diesem Moment für den Weg von Empathie, Selbsterkenntnis und Menschlichkeit verschlossen. Sein Verhalten ist ein Symptom dieser Verschlossenheit. Eine solche Person muss die Verantwortung für ihr Verhalten tragen und nach Möglichkeit gestoppt werden, zum Schutz der Gemeinschaft. Es wäre aber zu kurz gesprungen, ihr Verhalten mit dem Etikett „böse“ abzufrühstücken. Wenn „böse“ handelnde Menschen ihren Geist nicht öffnen können, ist das tragisch und kann großen Schaden anrichten. Friedliche Entwicklung und Heilung erreichen wir als Gesellschaft nur, wenn alle Menschen, die dazu in der Lage sind, sich aktiv darum bemühen, der Welt offenen Geistes, auch durch das Üben von Eigenschaften wie Empathie, Selbsterkenntnis und Menschlichkeit, zu begegnen – und den eigenen Geist dauerhaft offenzuhalten und zu entwickeln. Einige Zukunftsforscher sind überzeugt davon, dass die Menschheit in der Lage wäre, eine Welt ohne Armut und Kriege zu schaffen. In einer solchen Welt hätte die Idee des „Bösen“ ausgedient – ihr Platz wäre quasi nimmer und nirgendwo.