In einer frühen Flaschenpost habe ich eine Geschichte aus einer Rede des amerikanischen Schriftstellers David Foster Wallace vor Studenten zitiert. Die ging so: Schwimmen zwei junge Fische vergnügt daher, kommt ihnen ein älterer Fisch entgegen und sagt: „Morgen Jungs, wie ist das Wasser heute?“ und schwimmt weiter. Da dreht sich der eine junge Fisch zum anderen um und fragt: „Was um alles in der Welt ist Wasser?“
Heute schreibe ich Dir von einem paradiesischen Stückchen Erde aus. Ich sitze unter Zitronenbäumen in einem traumhaften Garten in Kalabrien. Da meine Reisebegleiterin erst morgen anreist, befinde ich mich in der ungewöhnlichen Situation, mich einen Tag lang ganz alleine in diesem wunderbaren Garten aufzuhalten (neben Hühnern, Vögeln, Hummeln und Schmetterlingen) ohne Plan oder Verpflichtung.
Als erstes konnte ich mir heute viel Zeit für die Morgenmeditation nehmen. Ich begann mit einer geführten Meditation der Headspace-App. Sie enthielt eine Anleitung, sich selbst als einen grenzenlosen blauen Himmel vorzustellen und alles, was einen an Gedanken, Emotionen und Sorgen beschäftigt, wie Wolken oder Vögel wahrzunehmen, die am Himmel vorbeiziehen, als temporäre Ereignisse. Ziel ist es, diese aufziehenden Gedanken und Emotionen wertfrei zu beobachten und wahrzunehmen, ohne sich damit zu identifizieren.
Wie ich feststelle, hilft es ungemein, wenn man sich sozusagen physisch in diesem Bild aufhält, also umgeben von ungetrübtem blauem Himmel, mit Blick auf das Tyrrhenische Meer, die Umrisse der Vulkaninsel Stromboli am Horizont. Wenn ich die Augen schließe, höre ich nur Vogelgezwitscher, Hühnergegacker und ein leichtes Rauschen der Blätter im Wind. Es gibt nichts zu tun. In der Meditation nennt man das manchmal „Ruhen im Sein“.
Was gewinnt man durch die Übung, in diesem Bewusstsein zu verweilen? Zunächst stelle ich fest, dass einen dieser Zustand der egozentrischen Perspektive, des dauerhaften zeitlich und räumlich gebundenen Ichs entbindet. Denn der grenzenlose sonnenerleuchtete Himmel ist immer da, auch wenn wir ihn gerade nicht sehen. Wer schon einmal an einem grauen Wintertag ins Flugzeug gestiegen ist und wenig später die Wolkendecke durchbrochen hat, hat in dem Moment begriffen, dass Wetter etwas Oberflächliches ist, das mit dem dahinterliegenden stabilen blauen Himmel nichts zu tun hat. Das ist eine Erkenntnis aus dieser Meditation: Durch die Selbstwahrnehmung als ein grenzenloser Himmel durchbreche ich die Wetterlage des Alltags, die mein wahres unabänderliches Wesen gelegentlich bedeckt. Wie ist diese Wetterlage bei Dir heute? Heiter bis wolkig? Graupelschauer? Sturmböen?
Als zweites stelle ich fest, dass sich mein Verhältnis zu meinem Körper verändert. Wenn ich mich als einen endlosen Himmel sehe, bin ich nicht physisch begrenzt. Ich bin nicht mein Körper, ich habe nur einen Körper. Alle Zipperlein, die mein Körper mir gerade präsentiert, kann ich, genau wie Emotionen und Sorgen, ebenfalls beobachten wie Wölkchen, die vorbeiziehen. An meinem Wesen ändern sie nichts.
Drittens verändert sich das Bewusstsein für die eigene Rolle in der Welt. Die meisten Menschen erleben sich im Alltag als ein separates Wesen, irgendwie getrennt von der Welt. Diese Sicht der Dinge wird typischerweise von unserem Verstand genährt, der sich meistens als Teil einer materiellen Welt versteht, in die man quasi als Mensch geworfen ist und in der das Leben von äußeren Ereignissen, anderen Menschen und Zufällen geprägt ist. Es ist eine Welt, in der immer die Gefahr von Einsamkeit, Ablehnung, Mangel und Angst lauert. Schlimmstenfalls ist es eine Welt des dauernden Existenzkampfes.
In der Himmelsmeditation besteht die Welt aus grenzenlosem Bewusstsein, und wir sind dieses Bewusstsein. In diesem Bewusstsein ist das Individuum kein kleines separates und egozentrisches Männchen in einer großen chaotischen Welt, sondern die ganze Welt ist Teil unseres Bewusstseins und wir sind eins mit der Welt. Es gibt keine Trennung. Das Bewusstsein ist der Rahmen, in den die vergängliche physischen Welt eingebettet ist. Wir spielen also nicht eine Rolle in einem Lebensfilm, sondern wir sind der Projektor, vielleicht können wir uns auch als die Leinwand verstehen – der Film jedenfalls ist nur temporäre Projektion. Der Blick auf unsere Mitmenschen wird dabei oft sanfter.
Was bringt eine solche Seelengymnastik für unseren Alltag? Unser Stress und unsere Sorgen sind schließlich real und wir kämpfen jeden Tag damit. Ich denke, ein wichtiges Ziel im Leben ist es zu lernen, mit Leid, Angst, Stress und Sorgen gut umzugehen. Damit sie uns nicht in Geiselhaft nehmen. Das heißt keinesfalls, sie zu ignorieren und oder sie unter den Teppich zu kehren – denn dann brechen sie sich unweigerlich Bahn, z. B. in Form einer Krankheit.
Es heißt auch nicht, gegen sie anzukämpfen. Stattdessen geht es um Akzeptanz. Darum, Problemen und herausfordernden Situationen einen Platz in unserem Leben zuzugestehen und sie angstfrei unter die Lupe zu nehmen, statt sie als lästige, vielleicht sogar bedrohliche, Abweichungen von unseren Lebensidealen oder gesellschaftlichen Normen zu betrachten, Abweichungen, die es zu bekämpfen gilt. Wenn wir sie annehmen, diese Probleme bewusst wahrnehmen und verstehen, warum sie in unserem Leben sind, können sie transformiert werden, bzw. heilen.
Das vermeintlich Negative willkommen zu heißen klingt zunächst unnatürlich. Es folgt der wertvollen Einsicht, dass die Präsenz von Herausforderungen in unserem Leben einen Sinn hat, genau wie die Präsenz der unansehnlichen grauen Regenwolke am Himmel einen Sinn hat. Ohne den Regen wächst nichts und ohne Herausforderungen im Leben entwickeln wir uns nicht.
Wie gelingt diese Akzeptanz? Ich habe im vergangenen Jahr eine Ausbildung in der somatisch basierten Heilmethode der Integration Technique® absolviert, die genau mit diesem Ansatz arbeitet: Blockaden, Stress, Ängste usw. auf der körperlichen und emotionalen Ebene wahrzunehmen, sich ihnen zu stellen und ihre vermeintlich negative Qualität durch einen klaren Fokus und vollständige Akzeptanz in etwas Positives zu transformieren. Es ist verblüffend wirksam und einfach. Wer im vergangenen Jahr eine Sitzung bei mir gebucht hat, hat es vermutlich schon erlebt, denn ich integriere diesen Ansatz mittlerweile in fast alle Sitzungen.
David Foster Wallace beendete seine zu Anfang erwähnte „Wasser-Rede“ von 2005 so: „Die sogenannte reale Welt wird euch nicht davon abhalten, auf Basis eurer (unbewussten) ‘Werkseinstellungen’ zu agieren, weil die sogenannte reale, männlich geprägte Welt des Geldes und der Macht fröhlich vor sich hin brummt, in einem Pool aus Angst und Wut und Frustration und Begierde und Anbetung des Selbst. Unsere heutige Kultur hat sich diese Kräfte auf eine Weise zunutze gemacht, die zu außerordentlichem Wohlstand, Komfort und persönlicher Freiheit geführt hat. Die Freiheit, Herr über unser winziges Reich in Schädelgröße zu sein, allein im Zentrum der gesamten Schöpfung. Diese Art von Freiheit hat viel für sich … Die wirklich wichtige Art von Freiheit beinhaltet aber Achtsamkeit und Bewusstsein und Disziplin ... Bei all dem geht es nicht um Moral oder Religion oder Dogmen … sondern um simple Bewusstheit; ein Bewusstsein zu entwickeln für das, was so wirklich und wesentlich ist, so versteckt und doch so offensichtlich, überall und immer um uns herum, so dass wir uns immer wieder daran erinnern: ‚Das ist Wasser.‘“
Und damit wären wir wieder bei der Himmelsmeditation und dem Kultivieren unseres Bewusstseins für das Wesentliche und Unabänderliche. Foster Wallace sagt, es sei furchtbar schwer, dieses Bewusstsein tagein, tagaus im Alltag zu entwickeln. Aber genau dies sei unsere Lebensaufgabe als denkende Menschen. Ich frage mich ernsthaft, ist es wirklich eine schwere Aufgabe oder doch eher ein Privileg? Mein Lehrer Noam Paz (s. hier) schreibt dazu: “Eines der größten Geschenke des Menschseins ist unsere Fähigkeit, den Weg des inneren Wachstums und der persönlichen Entwicklung selbst zu gestalten.” Klar ist, wir haben die Wahl: “Werkseinstellung” oder Bewusstheit. Kampf oder Akzeptanz. Stillstand oder Entwicklung. Lebensaufgabe oder Geschenk. Schwer oder leicht. Wie entscheidest du dich?
Quelle: David Foster Wallace, Das hier ist Wasser - Anstiftung zum Denken (2005)