Mit diesen Worten beginnt die Weihnachtsgeschichte. Und sie ist vor allen Dingen das, eine Geschichte. Obwohl viel dafür spricht, dass es den historischen Menschen Jesus gab, haben wir von ihm ausschließlich Geschichten. Und Geschichten sind machtvoll. Die von Jesus prägt die westliche Kultur wie kaum eine andere.
Oft unterscheiden wir zwischen dem, was „wirklich“ passiert ist, und „Geschichten“. Aber ist diese Unterscheidung überhaupt sinnvoll?
Wir sollten uns immer wieder bewusst machen, dass die einzige Realität, das einzig „Wirkliche“, was wir haben, der aktuelle Augenblick ist, gefiltert durch unsere individuelle Wahrnehmung, unser Bewusstsein. Die Vergangenheit existiert nur in Form von Erinnerungen, Emotionen, Erfahrungen, Ergebnissen und Kunstwerken sowie Geschichten, die wir um Ereignisse herum spinnen.
Die Zukunft wiederum existiert nur als Projektion aus unseren Plänen, Erwartungen, Hoffnungen, Ängsten und Erfahrungen, als Möglichkeiten und Potenziale, verankert im gegenwärtigen Moment. Trotzdem kommt es uns so vor, als würden wir uns durch ein zeitliches und räumliches Kontinuum bewegen – weil wir das, was wir erleben, in einen Kontext setzen, kausale Zusammenhänge herstellen, durch Wissen ergänzen, und ihm so Sinn geben. Wir erzählen uns und anderen unser Leben als würden wir einen Film nacherzählen. Unsere Identität ist quasi eine Geschichte – wir sind eine Geschichte. Und wie wir unser Leben erleben und interpretieren, ob als Hauptdarstellerin oder als Nebendarsteller, als strahlender oder als tragischer Held, als Regisseurin oder als Kabelträger, liegt an vielen Faktoren: an Kindheitserfahrungen, unbewussten Glaubenssätzen, Werten, sozialen und kulturellen Prägungen, Chancen und zu einem erheblichen Teil auch an unserer Vorstellungskraft. Denn erst wenn wir uns das Leben in etwa vorstellen können, welches wir uns wünschen, können wir es “er-leben”.
Wir Menschen unterscheiden uns nicht nur von den Tieren dadurch, dass wir einen phantasiebegabten kreativen Geist haben und uns Realitäten ausdenken können, sondern vermutlich macht uns dieser Geist überhaupt erst zu Menschen. Was wären wir ohne diesen kreativen Geist? In was für einer Welt würden wir leben? Sicherlich nicht in der Welt mit all den Erfindungen und Annehmlichkeiten, die wir haben; mit all ihrer Kunst, Kultur, Musik, Literatur. Wie arm wäre unser Leben ohne das?
Ich hörte neulich ein Interview mit der amerikanischen Autorin und Philosophin Jean Houston. Sie erzählte, dass Albert Einstein im Jahr 1945 zu Gast an ihre Grundschule in New York kam. Der damals Achtjährigen fiel als erstes auf, dass Einstein zwei unterschiedliche Socken trug. Ein naseweiser Mitschüler fragte ihn, so erinnert sie sich weiter, „Mr. Einstein, was müssen wir tun, um so intelligent zu werden wie Sie?“. Einstein antwortete, „Lest Märchen.“ Das war absolut nicht das, was die Kinder hören wollten. Also probierte es der Junge noch einmal, „Mr. Einstein, und was müssen wir tun, um noch intelligenter zu werden als Sie?“. Darauf antwortete Einstein, „Lest noch mehr Märchen“.
Es ist bekannt, dass Einstein Phantasie für wichtiger hielt als Wissen, bzw. überzeugt davon war, dass Wissen erst aus Vorstellungskraft entsteht. Jede Erfindung und jeder wissenschaftliche Durchbruch begann mit einer Idee, der Vorstellung einer vorher ungeahnten Möglichkeit, einer Phantasie.
Was bedeutet das für uns und die Welt? Es ist wichtig, dass wir unsere Phantasie entwickeln, auch durch das Hören, Lesen, Sehen, Ausdenken und Erzählen von Geschichten. Dass wir gedankliche Grenzen und etablierte Vorstellungen auf diese Weise immer wieder verschieben und durchbrechen. Das bereichert das Leben und hilft uns, immer wieder über unseren aktuellen Tellerrand zu gucken, neue Perspektiven einzunehmen und uns zu entwickeln.
Wir sollten uns auch klar darüber werden, in welchem „Film“, in welcher „Geschichte“ wir eigentlich leben und wer sie erzählt. Vermutlich leben die meisten von uns ein stückweit noch in der Geschichte, die unsere Familie über uns erzählt hat (warst Du das kluge Kind, das zerstreute Kind, das anstrengende Kind, das chaotische Kind, das begabte Kind, das vernünftige Kind, das störende Kind, die Große, der Kleine, die Mittlere…?). Vielleicht taugt uns diese Geschichte schon lange nicht mehr, begleitet uns aber nach wie vor. Wir dürfen uns also fragen, welche Geschichte will ich denn eigentlich leben und erzählen? Wie geht das nächste Kapitel weiter? Gibt es eine überraschende Wendung?
Auch für die Zukunft unserer Welt ist Vorstellungskraft gefragt. Aktuell sehen wir und hören von Krisen an jeder Ecke und es kann einem angst und bange werden. Dieses Narrativ wird befeuert durch die Flut von schlimmen Bildern und Berichten in den allgegenwärtigen Medien. Wenig berichtet wird darüber, was gut läuft in der Welt. Ich will damit nicht sagen, dass die Krisen überbewertet werden. Sondern dass der geräuschvolle Mediendiskurs vor allem eine düstere Geschichte erzählt und wir aufpassen müssen, dass wir uns davon mental nicht so einnehmen lassen, dass wir uns am Ende gar nichts anderes mehr vorstellen können. Denn wenn wir die Welt in eine positive Richtung lenken wollen, müssen wir diese Richtung erst einmal denken können. Wir sollten also dafür sorgen, dass unsere kreative Vorstellungskraft nicht von den vielen negativen Nachrichten gelähmt wird und wir handlungsunfähig werden.
Jesus hatte diese Vorstellungskraft und scheute sich nicht, seine Geschichte und Vision von einer Welt der Nächstenliebe, der Hoffnung und des Vertrauens zu erzählen. Von einer Welt, in der Gerechtigkeit herrscht und in der jeder Mensch gleichermaßen gesegnet ist, egal wer oder was er ist oder getan hat. Eine Art Himmelreich auf Erden. Jesus ließ sich offenbar nicht davon beirren, dass er damit aneckte, provozierte, bestehende Machtverhältnisse in Frage stellte und sich damit in Gefahr brachte. Er blieb sich und seiner Vorstellung treu und ließ sich am Ende dafür verraten, verhaften und umbringen. Am Kreuz sprach er, „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Mir scheint, er beklagte damit auch einen Mangel an Phantasie bei den Menschen und in der Welt.
Jesus lebte uns vor, dass wir die Macht unserer Vorstellungskraft niemals unterschätzen sollten. Er forderte die Lahmen und Kranken auf, geheilt aufzustehen und zu gehen, und sie taten es. Wir hören diese Geschichten gerne, glauben aber nicht so recht, dass das auch für uns möglich wäre. Wunder gehören schließlich in die Welt der Mythen.
Dabei ist uns allen die Macht des Placebo-Effekts bekannt. Es gibt unzählige Studien, bei denen es kranken Menschen deutlich besser ging oder sie sogar ganz heilten, nachdem sie ein Placebo, eine Tablette ohne Wirkstoff, eingenommen hatten. Einfach weil sie erwarteten, dass diese Tablette zu ihrer Genesung führt. Ihr Geist und die Vorstellung einer anderen Realität lösten quasi die nötigen Heilmechanismen im Körper aus. Interessanterweise gibt es sogar Studien, die solche Effekte belegen, auch wenn den Menschen vorher ausdrücklich mitgeteilt wurde, dass sie ein Placebo ohne Wirkstoff einnehmen. Der kollektive Glaube an die Wirksamkeit einer kleinen weißen Pille ist in unserer Gesellschaft offenbar so stark, dass der Wirkstoff selbst manchmal für die Heilung zweitrangig oder sogar unnötig ist. Es sind dann allein unser Geist und unser Glaube, die dieser wirkstofffreien Pille Heilkraft verleihen. Das wirft die Frage auf, ob man im nächsten Schritt nicht auch auf das Placebo verzichten könnte, um Heilung zu erreichen. Ich erlebe immer wieder in meiner Heiltätigkeit, dass Heilung auf diese Weise möglich ist – der Glaube kann Berge versetzen, so sagte es Jesus.
Auf keinen Fall will ich damit den Sinn und die Notwendigkeit medizinischer Behandlungen in Frage stellen oder suggerieren, der Ukrainekrieg oder der Klimawandel seien mit ein paar guten Gedanken in den Griff zu bekommen. Ich will uns mit diesen Überlegungen nur daran erinnern, dass wir die Geschichte der Welt in jedem Moment individuell und kollektiv schreiben und dass der Ursprung dessen, wie wir die Welt aktiv und passiv gestalten, immer in unserem kraftvollen Geist, unseren Gedanken, unbewussten Glaubenssätzen und Vorstellungen von der Welt liegt.
Und wir sollten uns entsprechend darüber im Klaren sein, dass es einen Unterschied macht, ob wir das Beste erwarten und es uns ausmalen oder das Schlimmste, ob wir die machtvollen Medienbilder als „die Realität“ wahrnehmen oder nur als einen redaktionellen Ausschnitt und eine Interpretation dessen, was auf der Welt passiert.
Der Plan der Mächtigen von damals, Jesus’ Geschichte und seine Provokationen im Keim zu ersticken, indem sie ihn umbringen ließen, ist jedenfalls gründlich schief gegangen. Zweitausend Jahre später wirkt seine Geschichte nach wie kaum eine zweite, und kein anderer Geburtstag wird von so vielen Menschen weltweit gefeiert wie seiner. Seine Botschaft, dass ein anderes Menschsein in einer gerechten und friedlichen Welt möglich ist, hat nichts von ihrer Aktualität verloren.
In diesem Sinne wünsche ich Dir wunderbare Feiertage und Raunächte mit Ruhe und vielleicht Zeit für innere Einkehr, Geschichten, Märchen und Mythen, Träume und Phantasien, und ich wünsche Dir viel Vorstellungskraft für ein gutes 2023.