Während ich das hier schreibe, rollt die goldene Kutsche des neuen Königs Charles mit großem Bahnhof durch London zur Krönungszeremonie. Man kann zu diesem Spektakel stehen wie man will, es als gute Unterhaltung, als wichtige identitätsstiftende Tradition, als aus der Zeit gefallenen Irrsinn oder irgendwie anders sehen.
Betrachten wir es durch die Brille der großen Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, so stellen wir fest, dass alle fast acht Milliarden Menschen auf diesem Planeten aus demselben genetischen Bausatz bestehen. Biologisch gesehen sind die Unterschiede zwischen den Vertretern der Spezies Mensch, z. B. zwischen König Charles und einem in Armut lebenden Untertanen in seinem „Commonwealth“, so verschwindend gering, dass sie die absurden Ungleichheiten in der Stellung und den Lebensbedingungen dieser Menschen sicher nicht rechtfertigen.
Trotzdem haben die meisten Menschen morgens beim Aufwachen nicht als erstes den Impuls, diese ungleichen Verhältnisse in der Welt sofort und umgehend zu beenden. Warum nicht? Vielleicht, weil wir sie als „normal“ empfinden. Wir sind alle mit Märchen von Königen in goldenen Palästen aufgewachsen und haben von klein auf akzeptiert, dass es arme Menschen und Könige auf der Welt gibt. Hat uns das jemals den Schlaf geraubt?
Ich habe mir heute einen Vortrag des ungarisch-kanadischen Mediziners und Autors Gabor Maté zu seinem Buch Der Mythos des Normalen angehört – das auf der These beruht, dass sich die Menschheit eine „Normalität“ geschaffen hat, die uns krank macht.
Maté ist Holocaustüberlebender. Er erzählt, dass der Nazi Adolf Eichmann, der eine zentrale Rolle bei der systematischen Deportation und Vernichtung der europäischen Juden spielte, vor seinem Prozess in Jerusalem in den 1970er Jahren mehreren psychologischen Gutachten unterzogen wurde. Die Gutachter, wie auch die Schriftstellerin Hannah Arendt, die den Prozess beobachtete, kamen einstimmig zu dem Schluss, dass er ein psychisch „normaler“ Mensch sei, ein vorbildlicher Ehemann und Familienvater usw. Maté stellt die Frage, was „normal“ im Falle eines Mannes bedeute, der über Jahre systematischen Massenmord organisiert hat.
Viele Menschen sind sicherlich derzeit unzufrieden, wenn sie in die Welt blicken und die Entwicklungen und Zustände betrachten. Wir wollen die „Normalität“ unserer Krisen nicht. Gleichzeitig muss man sagen, dass der Mensch sich sehr schnell an neue Normalitäten gewöhnt – was vermutlich Fluch und Segen zugleich ist. Zum Beispiel haben sich die meisten Menschen, die nicht direkt davon betroffen sind, im vergangenen Jahr schon ein stückweit an den schrecklichen Krieg in der Ukraine gewöhnt, so wie wir uns alle längst an die himmelschreienden Ungerechtigkeiten in der Welt gewöhnt haben. Aber wollen wir diese Normalität? Und wenn nicht, was können wir dagegen tun?
Auf der einen Seite gibt es die Möglichkeit, die bestehenden Verhältnisse aktiv zu verändern, z. B. indem man in die Politik geht oder sich anderweitig engagiert. Das ist sinnvoll und wertvoll und gleichzeitig ein mühsames Geschäft mit keinerlei Erfolgsgarantie. Andererseits halte ich es für wichtig, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass das, was in unserer Kultur als „normal“ gilt, keineswegs mit „natürlich“ gleichzusetzen ist. Sondern dass „Normen“ und „Normalitäten“ historisch, kulturell, sozial, geographisch und politisch gewachsene Konstrukte sind. Nur weil sie existieren, sind sie noch lange nicht richtig oder vorteilhaft – und schon gar nicht in Stein gemeißelt.
Um etwas zu verändern, müssen wir bewusst aus diesen Normalitäten heraustreten, die Perspektive wechseln, ein paar Ebenen höher gehen und das Klein-Klein der Meinungen, festgefahrenen Positionen und schnell hochkochenden Emotionen verlassen. Wir müssen von uns selbst weg abstrahieren und sozusagen eine breitere, eine universelle Perspektive einnehmen, statt einer persönlichen. Wenn das immer mehr Menschen gelingt, werden sich wahrscheinlich auch die Verhältnisse ändern.
Wie ist das gemeint? Ich lese gerade ein sehr empfehlenswertes Buch des amerikanischen Astrophysikers Neil deGrasse Tyson zum Thema „Kosmische Perspektiven auf unsere Zivilisation“. Er veranschaulicht eindrucksvoll, wie eine im wörtlichen Sinne kosmische Perspektive zu gesellschaftlichen Veränderungen führen kann: Mit den ersten Mondumrundungen der Apollo-17-Mission im Dezember 1968 kamen zunächst die NASA-Astronauten und dann die Menschen auf der Erde erstmals in den Genuss, ein vollständiges Bild unseres kleinen blauen Planeten aus dem All zu sehen. Und das machte etwas mit ihnen. Die Astronauten waren aufgebrochen, um den Mond zu erforschen. Sie kehrten mit einem veränderten Blick auf die Erde zurück, die aus dem All klein und verletzlich, strahlend, wunderschön und kostbar wirkte. Dass der Anblick der Erde sie so berühren würde, darauf waren sie nicht gefasst gewesen. Auch die Menschen auf der Erde sahen die Bilder und es machte etwas mit ihnen.
1968 war für die USA das blutigste Jahr seit dem amerikanischen Bürgerkrieg, tausende Soldaten und Zivilisten starben allein in Vietnam. Doch die Bilder des blauen Planeten Erde und die berührenden Berichte der Astronauten pünktlich zu Weihnachten lösten eine Bewusstseinsveränderung aus. Schon vorher waren die großen Umweltprobleme, die mit der Industrialisierung gekommen waren, bekannt, aber man hatte wenig dagegen unternommen. Zwischen 1968 und 1973 wurden dann in den USA plötzlich reihenweise Umweltgesetze erlassen – zu Luft- und Wasserreinhaltung, Artenschutz, usw. Die Umweltbehörde EPA wurde gegründet, der erste Katalysator für Automotoren entwickelt.
Der Autor zitiert auch die amerikanischen Astronauten bei ihren gemeinsamen Projekten mit den russischen Kosmonauten mitten im Kalten Krieg. Sie schilderten, dass die Begegnungen mit diesen „Erzfeinden“ etwas geradezu Mystisches hatte, denn man erkannte sofort eine Geistesverwandtschaft in der gemeinsamen Begeisterung für die Fragen des Kosmos und die wissenschaftliche Forschung fernab von Politik, Ideologie und nationalen Fronten. Es sei sofort eine Vertrautheit und Sympathie da gewesen, eine Art „Wiedererkennen“.
Auch in Heilphilosphien wie ThetaHealing wird das Kultivieren des „kosmischen Bewusstseins“ empfohlen. Damit kann man sich im Idealfall immer besser von ego-getriebenen Verhaltensweisen, Ängsten, Konkurrenzdenken, Vorurteilen und dem nicht immer für die Gesellschaft vorteilhaften Gruppenbewusstsein lösen.
Was bedeutet das konkret? Ein Beispiel: Stell Dir vor, Du sitzt auf dem Mond, knapp 400.000 km von der Erde entfernt, und blickst auf die im Sonnenlicht aufgehende Erde im Nachthimmel. Während Du dort so sitzt, hörst Du einen Bericht über den Streit der deutschen „Ampelparteien“ über ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Auf der einen Seite steht die Überzeugung, dass ohne ein sofortiges Tempolimit auf den noch nicht begrenzten Autobahnen im kleinen Deutschland die globale Klimakatastrophe endgültig besiegelt sei – und der ideologisch verbohrte Koalitionspartner ist schuld! Auf der anderen Seite steht die Überzeugung, dass ein generelles Tempolimit auf den noch unbeschränkten Autobahnen (wie es in allen anderen europäischen Ländern längst besteht) eine derartige Beschneidung der persönlichen Freiheit, ja geradezu eine Menschenrechtsverletzung wäre, dass das Leben kaum noch lebenswert wäre – und der ideologisch verbohrte Koalitionspartner wäre schuld! Beide diese Extreme sind natürlich absurd. Am liebsten möchte man die Parteien mal kurz auf den Mond schießen, damit sie gemeinsam den „Erdaufgang“ beobachten, aus der kosmischen Perspektive heraus noch einmal miteinander reden, sich einigen und sich für ihren durchaus kleinkarierten Streit angemessen schämen können.
Nach meiner Erfahrung kann man die kosmische Perspektive auch gut üben, wenn man nicht auf dem Mond sitzt. Durch Visualisierung, durch Meditation, durch Selbsterforschung, durch das Üben, sich in andere Perspektiven hineinzuversetzen, durch positive Gruppenaktivitäten wie Musik machen, durch kreative Projekte, Bewegung in der Natur, durch das Hinterfragen von Normen und durch die Offenheit, alte Positionen zu überdenken – und immer wieder durch die Frage: Wie würde ich dazu stehen, wenn ich aus 400.000 km Entfernung aus auf die Erde blicken würde?
Vielleicht wäre aus dieser Distanz und Perspektive vieles gar kein so großer Aufreger mehr und man erkennt, dass die Dinge oft nicht so sind, wie sie scheinen. Es ist ja bekanntlich nicht alles Gold, was glänzt, und ob der frisch gesalbte König unter seiner schweren glänzenden Krone glücklicher ist als sein Untertan am anderen Ende der Welt, der vielleicht von der Hand in den Mund lebt, sei auch dahingestellt.