“Die Erschaffung des Menschen” von Michelangelo, Sixtinische Kapelle, Rom
Diese Woche hörte ich dieses Zitat von dem großen Renaissance-Künstler Michelangelo: „Mach dir keine Sorgen, denn Gott hat uns nicht erschaffen, um uns im Stich zu lassen“. Man könnte es auch so auf den Punkt bringen: „Vertraue!“ Michelangelo setzte dabei ganz selbstverständlich voraus, dass jeder Mensch an Gott glaubt. Muss man das, um Vertrauen zu haben?
Ein Freund und Lehrer von mir sagte mir einmal, „ich war noch nie religiös, aber ich war schon immer gläubig“. Das hat mir total eingeleuchtet, denn Religion ist eine von Menschen geschaffene kulturelle Einrichtung, ein Rahmen für verschiedene Glaubensrichtungen; der Glaube selbst ist aber grundsätzlich etwas Universelleres. Und ich tue mich auch schwer mit dem Wort „Glaube“, denn das klingt so, als hätte man sich entschieden, ins Blaue hinein an die Existenz von etwas zu glauben, was es höchstwahrscheinlich gar nicht gibt, eine Illusion oder Projektion (im Sinne Ludwig Feuerbachs), z. B. weil das Leben und der Tod sonst schwer auszuhalten wären. Bei den Menschen, die ich kenne und die ich als gläubig bezeichnen würde, beruht ihr „Glaube“ nach meinem Eindruck eher auf einer Erfahrung, auf einem an ein Wissen grenzenden Gefühl, Bewusstsein oder Erleben, dass es etwas gibt, das größer ist als wir Menschen, und das zu erfassen der menschliche Verstand nur begrenzt in der Lage ist. Und diese Erfahrung ist real.
Demnach sollte also nicht unterschieden werden zwischen denjenigen, die in einer völlig rationalen Welt leben, die aus rein physikalischen und biologischen Gesetzen besteht, in der Leben vermutlich durch Zufall entstanden ist, keinen höheren Sinn hat und wo das Leben endet, wenn es endet, und denjenigen, die völlig irrational und naiv wie Kinder aus Wunschdenken oder Indoktrination heraus an eine höhere Macht glauben (wollen) wie an die Zahnfee. Ich würde eher unterscheiden zwischen jenen, die zum Teil schon von Geburt an die Erfahrung oder das Bewusstsein einer höheren Wirklichkeit haben und sich kontinuierlich oder immer wieder auf diese Erfahrung einlassen und spirituelle Fähigkeiten entwickeln, und jenen, denen diese Erfahrung, dieses Erleben, dieses Bewusstsein, diese Übung fehlen, die sie ablehnen oder die einfach keinen Zugang dazu haben.
Ich erlebe, dass Spiritualität im Sinne eines Gefühls der Verbundenheit mit etwas Größerem, Transzendentem, Göttlichem ein natürlicher angeborener und tief verwurzelter Aspekt des Menschseins ist, der in der westlichen Welt mit der Aufklärung ins Private verbannt, in weiten Teilen des öffentlichen Lebens als irrational diskreditiert und den Menschen ein Stück weit abtrainiert wurde. In unserem Bildungssystem z. B. spielt Spiritualität kaum eine Rolle. In fernöstlichen Ländern und Traditionen ist das zum Teil seit Jahrtausenden ganz anders.
Ich beobachte aber auch, dass in unserer Gesellschaft ein Bewusstseinswandel im Gange ist. Als ich vor rund 10 Jahren anfing, mich mit Heilmethoden zu beschäftigen, die eine spirituelle Komponente haben, habe ich bei vielen Menschen Vorbehalte gespürt, auch bei mir selbst. Inzwischen muss ich den Menschen, die zu mir kommen, eigentlich nichts mehr erklären. Vielleicht auch durch die zunehmende Popularität von Yoga, buddhistischer Philosophie und Meditationspraktiken entspannt sich das Verhältnis der Menschen zu einer Art von Spiritualität und Glauben, die nicht mehr unbedingt etwas mit einem klassischen Religionsverständnis zu tun hat und die in den Alltag und das Selbstverständnis der Menschen hineinwächst. Diese gesellschaftliche Öffnung hin zu einem breiteren Verständnis und Erleben von Spiritualität ist in jedem Fall begrüßenswert, denn zahlreiche Studien belegen, dass spirituelle Menschen dankbarer, glücklicher und vielfach auch gesünder durchs Leben gehen.
Was hat das nun mit Vertrauen zu tun? Wenn jemand in der jetzigen Zeit mit all ihren Verwerfungen kein Fundament in der Erfahrung einer höheren Sinnhaftigkeit hat, wie soll er oder sie dann Vertrauen in der Welt finden und damit auch die Kraft für die Anstrengungen, die wir brauchen, um die Welt in stabilere Fahrwasser zu führen, geschweige denn, über den Tellerrand zu gucken und konstruktiv in die Zukunft zu denken?
Ich bin ein von Natur aus optimistischer Mensch. Dennoch fällt es mir derzeit beim Blick in die Nachrichten oft schwer. Aber ich habe durch Heilpraktiken gelernt, dass alle Qualitäten, die wir für eine gute Welt und ein positives Leben brauchen, bereits in uns angelegt sind, in jedem Menschen – auch das Vertrauen. Wir sind alle mit Vertrauen auf die Welt gekommen, man spricht vom Urvertrauen. Wenn uns das Vertrauen abhandenkommt, dann ist es unter negativen oder mangelnden Erfahrungen verschüttet, weg ist es nicht. Und man kann es normalerweise auch wieder hervorholen, wenn man will.
Sollte man das wollen? Auf jeden Fall, denn woher sollen wir die Kraft nehmen, das Geschenk des Lebens positiv zu gestalten, stabile Gemeinschaften zu entwickeln, andere Menschen zu unterstützen, die das brauchen, uns auszudrücken, zu spielen, Freude zu haben, herzlich zu lachen, Ideen, Inspiration und Entwicklung in die Welt zu bringen, Armut auszumerzen, das Klima zu schützen, Kriege zu beenden usw., wenn wir kein Vertrauen haben? Selbst ein Mensch, der keinerlei Zugang zu Glauben oder Spiritualität hat, wird kaum unterschreiben, dass das Leben nur aus dem Streben nach materieller Sicherheit, Überleben und Vegetieren bestehen sollte.
Michelangelo, 1475 geboren, lebte in einer Welt, die viel härter war als unsere, in der Tod und Krankheit in unterschiedlichen Formen ständig vor der Tür standen und das Leben im Schnitt deutlich früher endete. Er ist als einer der genialsten Künstler der Welt in die Geschichte eingegangen. Seine Werke berühren uns bis heute zutiefst. Wer einmal die erhebende Wirkung seiner Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle oder seiner Pietà in Rom erlebt hat, wird dies nicht so schnell vergessen. Seinen Schriften können wir entnehmen, dass er, wie es für Künstler der Renaissance typisch war, Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde, sozusagen als den Chefkünstler, als oberste kreative Instanz verstand und den Menschen als Teil dieser Schöpfung, dessen Aufgabe es ist, die göttliche Schöpferkraft im menschlichen Leben umzusetzen und das Leben als heiliges Kunstwerk zu Ehren Gottes zu gestalten. Diese Art der Spiritualität drückt sich in seinen Werken aus. Er sagte: „Deine Gaben liegen dort, wo sich deine Werte, Leidenschaften und Stärken treffen. Diesen Ort zu entdecken ist der erste Schritt, um dein Meisterwerk, dein Leben, zu gestalten.“
Wenn du das nächste Mal in die Zeitung oder in die Nachrichten guckst und siehst, dass neben den schrecklichen Kriegen und dem Elend in der Welt Lug, Trug und Verleumdung bei allen sogenannten Supermächten zum „new normal“ geworden sind, und dass es offensichtlich naiv ist zu erwarten, dass diese Regierungen ihre Aufgabe in Integrität, positiver Gestaltung, Achtung der Menschenwürde und Vertrauenswürdigkeit sehen, und wenn dir das Beklemmungen bereitet, dann denke vielleicht an Michelangelo. Wenn du Mühe hast, das Leben in diesem Sinne als göttlichen Auftrag zu begreifen, kannst du es vielleicht mit dem Glücksforscher Anton Bucher halten, der sagt: „Wir können das nicht ändern, was in der Ostukraine passiert. Aber wir können versuchen, dort, wo uns das Leben hingestellt hat, human, menschlich und freundlich zu sein.“ Dabei hilft das Vertrauen, dass es einen Sinn hat. Und das Vertrauen ist da. In dir und in mir. Eine wie auch immer geartete spirituelle Praxis kann dabei helfen, es zu finden.