Freier Fall

Foto: Franziska Mosthaf

Foto: Franziska Mosthaf

In meiner Jugend habe ich immer mal wieder davon geträumt, einen Fallschirmsprung zu machen. Ich interessierte mich für den freien Fall. Anfangs hielten meine Freundinnen in der Schule das für einen Witz. Als sie merkten, dass ich es ernst meine, kratzten sie kurz nach dem Abitur Geld zusammen und schenkten mir einen Tandemsprung zum Geburtstag. Ich habe mich riesig gefreut. Der Sprung fand an einem sonnigen Augusttag statt und dauerte ungefähr 20 Minuten. 30 Sekunden davon waren freier Fall.

Ich habe in letzter Zeit öfters daran gedacht und mich gefragt, warum mich die Vorstellung, aus zweieinhalbtausend Metern Höhe aus einem Flugzeug zu springen, die für viele Leute ein Gräuel ist, so fasziniert hat. Es ging nicht um den Adrenalinkick, auch nicht um den Freizeitspaß, sondern um das Erlebnis des vollständigen Kontrollverlusts, wenn man keinen Boden mehr unter den Füßen hat. 

Fast jeder Mensch bekommt mal im Leben den Boden unter den Füßen weggezogen, macht unschöne Erfahrungen, erlebt Dinge, wo es anders läuft als erhofft, Krankheiten, Rückschläge, Verlust, zerstörte Hoffnungen. Erlebnisse im Kleinen oder im Großen. Wo man verzweifelt fragt, “Warum?”. Mir sind in den letzten Monaten ein paar Menschen begegnet, die vor kurzem todkrank waren, teilweise Nahtoderfahrungen gemacht haben und sozusagen in letzter Sekunde überlebt haben. 

Was machen solche existenziellen Erlebnisse mit diesen Menschen? Aus meiner Erfahrung schlagen sie danach eine von zwei Richtungen ein: Entweder sagen sie sich, diesen Kontrollverlust, diese Ohnmacht und dieses Ausgeliefertsein will ich nie wieder erleben. Und bemühen sich fortan, möglichst jeden Aspekt ihres Lebens zu kontrollieren und allen Eventualitäten vorzugreifen. Das ist eine ganz natürliche Reaktion. Aber sie ist anstrengend, kompliziert und macht in aller Regel nicht glücklich. Andere sagen sich, hey, das Leben ist ein Geschenk, ich kann die Dinge sowieso nur begrenzt kontrollieren, also lasse ich mich ins Leben fallen, tue, was mir Freude macht, vertraue dem Prozess und gucke, was passiert. 

Was unterscheidet diese Menschen? Das lässt sich natürlich nicht pauschal sagen, aber oft geht es um Vertrauen und Mut. Die einen sagen sich, mein Vertrauen ist so tief erschüttert, dass ich mich nur noch auf mich selbst verlassen kann. Sie sagen sich vielleicht auch, lieber leide ich die ganze Zeit ein bisschen, als dass mir die Dinge entgleiten. Kontrolle gibt mir Sicherheit.

Die anderen sagen sich, ich habe den Mut gehabt zu akzeptieren und loszulassen und es hat sich ausgezahlt. Also gehe ich ab jetzt entspannt und mit Vertrauen durch die Welt. Lieber traue ich mir etwas zu und übergebe mich dabei mutig dem Fluss des Lebens, was auch immer er bringen mag, als meine Energie darauf zu verwenden, dauernd alles “im Griff” zu haben.

Den Mut, aus dem Flugzeug zu springen (im wörtlichen wie im übertragenen Sinn), bringt nicht jeder auf, und natürlich habe ich ihn auch nicht immer. Aber ich kenne immer mehr Leute, die auch mit wachsender Lebenserfahrung zunehmend den Weg des Loslassens einschlagen (ohne draufgängerisch zu sein) und gute Erfahrungen damit machen. Sie stellen dabei fest, dass das Leben sie trägt, ihnen die Richtung weist und manchmal unerwartet großartige Dinge geschehen. Dass in vermeintlich negativen Erfahrungen oft ein Geschenk versteckt liegt, das sie im Leben weiterbringt. Viele Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass Wünsche (Partnerwunsch, Kinderwunsch, Jobwunsch usw.) genau dann in Erfüllung gehen, wenn sie das Thema losgelassen haben – dass es plötzlich “läuft”. Warum aber sind Akzeptanz, Loslassen, der freie Fall, Kontrollverlust und Freiheit so beglückend und gleichzeitig so furchteinflößend?

Hinter dem Wunsch nach Kontrolle steht in aller Regel unser Ego. Es ist unser Selbstbild und erzählt eine (fiktive) Geschichte davon, wer wir sind oder sein wollen, und es ist ständig damit beschäftigt, dieses Bild zu schützen und aufrecht zu erhalten. Je starrer und unflexibler das Ego, desto mehr Angst haben wir vor Veränderung, Kritik oder Rückschlägen. Ein dominantes Ego kann und will sich eine Welt, in der es nicht existiert oder unrecht hat, nicht vorstellen. Es hat große Angst vor Bedeutungslosigkeit oder Auslöschung.

In unserer komplexer werdenden Welt, in der die Zukunft immer unsicherer erscheint, ist die Versuchung groß, sich an Strukturen, Bewährtem und Berechenbarem festzuklammern. Der weltweite Ruf vieler Menschen nach autoritären Führungsfiguren in den letzten Jahren ist ein Symptom dessen. Es ist der verzweifelte Versuch, eine Tür zu einer früheren, vermeintlich verlässlicheren Welt mit einem Schlüssel zu öffnen, der nicht mehr passt. Dabei müsste man vielleicht einfach nur die Klinke betätigen und entspannt das Neuland hinter der Tür betreten.

Im freien Fall habe ich nach einer heftigen Schrecksekunde ein Gefühl unendlicher Freiheit erlebt. Es war, als würden sich alle körperlichen, geistigen und emotionalen Grenzen auflösen – als würde ich mich auflösen. Es waren vielleicht die angstfreiesten und ego-freiesten 30 Sekunden meines Lebens. 

Wie findet man nun den Mut und das Vertrauen loszulassen und die Kontrolle aufzugeben? Für mich war das Bedürfnis nach der Erfahrung des freien Falls und der „Bewusstseinserweiterung“, die sich daraus ergeben könnte, so stark, dass der Schritt, aus einem Flugzeug und somit aus meiner Komfort- und Kontrollzone zu springen, nicht so schwer war.

Es geht manchmal darum, seinen Ängsten ins Auge zu blicken und sich zu fragen, was ist mir so wichtig, dass ich dafür bereit bin, etwas anderes loszulassen. Mütter bringen diesen Mut oft instinktiv auf, wenn es um den Schutz ihrer Kinder geht. Und ich bin sicher, jeder Mensch findet Bereiche im Leben, wo er sein Ego und seine Ängste für ein höheres Ziel zurückstellt und dann vielleicht merkt, da passiert ja gar nichts schlimmes, im Gegenteil.

Zwei der Menschen, die mir von ihrem Fast-Tod erzählt haben, berichteten ganz unabhängig voneinander, dass sie nach viel Verzweiflung einen Punkt erreicht hatten, wo der Tod nichts furchteinflößendes mehr hatte, sondern leicht und schön erschien. Sie hatten ihn akzeptiert, waren bereit zu gehen, befanden sich auf dem Weg, und es war gut. Und in dem Moment, als sie sich fallen ließen, merkten sie, dass sie sich auch für das Leben entscheiden konnten. Sie sahen sich wie an einem Scheideweg stehen. Sie haben ihre Entscheidung für das Leben als die mutigere erlebt, die ihnen mehr Kraft abverlangt hat. Beide diese Menschen wirken befreit und gehen mit einem anderen Strahlen durchs Leben. Ich finde das sehr inspirierend.