Was es bräuchte...

Viele Menschen haben derzeit das Gefühl, dass wir uns in einer entscheidenden Phase der Menschheitsgeschichte befinden und es gerade insgesamt in der Welt rumpelt. In Politik und Medien ist gerne von den notwendigen „Weichenstellungen für die Zukunft“ die Rede. Mit unserer Bundestagswahl und künftigen neuen Regierung hier in Deutschland, den Themen beim G20-Treffen und dem Klima-Gipfel in Glasgow mit eindringlichen Appellen, selbst von Papst und Queen, wird das gerade besonders deutlich. Optimistisch betrachtet traue ich manchen Politiker:innen zu, dass sie es ernst meinen. Aber gelingt am Ende auch eine Umsetzung, die wirklich etwas bewegt?

Die Pandemie hat ihren eigenen Beitrag dazu geleistet, dass wir Gewohnheiten überdenken mussten. In solchen Zeiten kommt man eigentlich nicht umhin, über den Alltag hinaus groß zu denken, und sich zu fragen, welche Eigenschaften wir Menschen kultivieren müssen, um den Herausforderungen zu begegnen. 

Ich denke öfters darüber nach und meine, Furchtlosigkeit wäre ziemlich hilfreich. Furchtlos anzupacken, Überzeugungen in Taten zu übersetzen, den Mund aufzumachen, Veränderungen auf den Weg zu bringen. Dem Menschen stehen dabei oft soziale Ängste im Weg – was denken die Anderen von mir, wenn ich das sage oder tue? – und manches Mal erscheint der Weg der Untätigkeit als der sicherere.

Soziale Ängste sind tief in unserer Evolution verwurzelt, denn Ächtung und der potenzielle Ausschluss aus der Gemeinschaft kamen in der Geschichte der Menschheit oft einem Todesurteil gleich. Zugehörigkeit und Akzeptanz sind immer noch fundamentale Triebkräfte für menschliches Handeln bzw. Untätigkeit. Sich aus dem Fenster zu lehnen verlangt, dass man sich über soziale Ängste hinwegsetzt. Ungewöhnlich ist in dieser Hinsicht Greta Thunberg, der nach eigener Aussage aufgrund ihres Asperger-Autismus die Meinung anderer Menschen gleichgültig ist, und die den Weltenlenkern erfrischend unverblümt ins Gesicht sagt, dass Worte ohne Taten nur „blabla“ sind.

Furchtlosigkeit allein ist aber auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Denn auch ein mordender Psychopath oder ein US-Präsident, der bei einem Pressetermin einen behinderten Journalisten imitiert, sind auf grässliche Weise furchtlos. Woran es hier mangelt, ist (wie so oft) das Mitgefühl.

Wenn Mitgefühl und Furchtlosigkeit eine Symbiose eingehen und zum Antrieb menschlichen Handelns werden, wenn wir das unseren Kindern als Lebensziel vermitteln, wie sieht die Welt dann aus? Ich denke an das schöne deutsche Wort „beherzt“ – das diese Symbiose ganz gut beschreibt.

Letzte Woche hat mich die Abschiedskolumne des bekannten New York Times-Journalisten Nicholas Kristof unter dem Titel „A Farewell to Readers, With Hope“ bewegt (https://nyti.ms/3jXDyHH). Kristof fing vor 37 Jahren bei der NYT an; dieser Job galt quasi als ein Hauptgewinn in der Welt des Journalismus, den man niemals freiwillig aufgeben würde. In seiner Zeit bei der NYT hat er an vorderster Front aus Krisenregionen berichtet, den Blick der Welt unter anderem auf die Gräuel in Darfur gelenkt, brutale Unterdrückung, blutige Gemetzel, Armut, Krieg und Vergewaltigung gesehen – hat Kinder interviewt, die Unvorstellbares durchgemacht hatten, und es hat ihn sehr mitgenommen. Trotz alledem liebte er seine Arbeit und empfand sie als sinnhaft. Er wurde zweimal mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Statt sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen, verlässt er nun diesen Job, um als Gouverneur in seinem Heimatstaat Oregon zu kandidieren. Er schreibt, man dürfe sich zurecht fragen, ob er noch ganz bei Trost sei, diesen Schritt zu gehen. 

Als Motivation nennt er drei wichtige Erkenntnisse aus all seinen Erfahrungen rund um den Globus:
1. Die Menschheit ist zu Unglaublichem fähig. Im Zusammenhang mit den schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlebte er oft ungeheure menschliche Größe. Menschen, die bereit waren, größte Risiken auf sich zu nehmen und alles zu geben, nur um Schlimmeres für andere zu verhindern oder etwas zu bewegen.
2. Die Menschheit besitzt bereits das Wissen, was getan werden muss, um die Lage auf der Welt zu verbessern. Oft mangelt es am politischen Willen in der Umsetzung. 
3. Die Menschheit ist ein riesiger Talentpool, doch vielen Menschen fehlen die Chancen, ihr Potenzial zu entfalten. 

Während er über Krisen in aller Welt berichtete, wurde Kristof auch bewusst, dass bei ihm zu Hause in den USA Krisen schwelen, die wenig Aufmerksamkeit erhalten. In seiner Heimatstadt in Oregon herrscht ein hohes Maß an Arbeitslosigkeit, Medikamentenabhängigkeit, Alkoholismus, Verzweiflung, exorbitante Selbstmordraten und wenig Hoffnung – davon sei mindestens die Hälfte seiner alten Klassenkameraden betroffen. Er will nun politische Verantwortung übernehmen, um das Leben für diese Menschen besser zu machen. Bei der NYT zu bleiben wäre sicher bequemer gewesen.

Zum Thema Potenzial und Chance las ich dieser Tage die Geschichte des kleinen Ugur. Ende der 60er Jahre kam er als Vierjähriger aus der Türkei nach Köln, sein Vater arbeitete in den Ford-Werken. Obwohl er ein kluges Kind war, wollte ihn sein Lehrer nach der 4. Klasse auf die Hauptschule schicken, vermutlich einfach, weil er ein türkisches „Gastarbeiterkind“ war. Ein beherzter Nachbar schritt ein und setzte durch, dass Ugur aufs Gymnasium kam. Dort machte er als erstes Einwandererkind Abitur, als Jahrgangsbester, studierte Medizin, wurde Professor und widmete sein Leben der Krebsforschung. Später gründete er mit seiner Frau zusammen die Firma BioNTech in Mainz. Vielleicht erhält er eines Tages den Nobelpreis für seine Leistungen. Einen Preis hätte in jedem Fall schon damals der Nachbar verdient, der sich dazu entschied, in der Schule Rabatz zu machen. Auf seinem Kölner Balkon zu sitzen und Kaffee zu trinken wäre sicher bequemer gewesen.

In der ARD-Mediathek kann man aktuell die sehenswerte Doku-Reihe „HERstory“ angucken. Es geht darum, in welchem Ausmaß Frauen in unserer Geschichte und Kultur von jeher ausgeblendet wurden. Dort lernt man z. B. eine beeindruckende Herzchirurgin kennen, die bereits vor Jahrzehnten feststellte, dass Frauen häufiger an einem Herzinfarkt sterben als Männer, weil sich die gesamte medizinische Forschung und Lehre der Herz-Kreislauf-Erkrankungen rein auf Männer bezog. Die Medizinerin kämpfte einen langen zähen Kampf in einer männerdominierten Medizin-Welt, um Gehör dafür zu bekommen, dass weibliche Herzinfarkte anders ablaufen und dringend genauer erforschst werden müssen, um das Leben von Frauen zu retten. Ebenso wie die Ingenieurin, die feststellte, dass Frauen bei Autounfällen häufiger schwer verletzt werden und sterben als Männer, weil sämtliche Crash-Test-Dummies weltweit am männlichen Körperbau ausgerichtet waren. Die Physiognomie von Frauen wurde im Automobilbau jahrzehntelang ignoriert. Auch diese Ingenieurin kämpfte beherzt einen langen mühsamen Kampf, um Frauen das Leben zu retten.

Was solche Menschen neben Furchtlosigkeit und Mitgefühl an den Tag legen, ist sicherlich Willenskraft und Durchhaltevermögen. Nicht jeder hat entsprechende Kapazitäten. Was wir aber vermutlich alle üben können, ist aufmerksam durchs Leben zu gehen; zu beobachten, wann soziale Ängste und das Bedürfnis, in der Komfortzone zu bleiben, uns davon abhalten, uns aus dem Fenster zu lehnen, wenn es sinnvoll wäre. Vielleicht können wir dann öfters mal beherzt den Weg von Furchtlosigkeit und Mitgefühl einschlagen, wenn wir Missstände und Ungerechtigkeiten sehen. Dabei müssen keine weltbewegenden Technologien oder politischen Karrieren herauskommen. Manchmal reicht es schon, den Mund aufzumachen, wenn sich jemand rassistisch äußert (auch wenn es einfacher wäre, da mal eben wegzuhören); oder die eigenen Privilegien und Fähigkeiten gelegentlich zur Unterstützung anderer Menschen zu nutzen. 

Auf unseren Politiker:innen lastet eine große Verantwortung, die besagten „Weichen für die Zukunft“ zu stellen, und es ist immer einfach, sie zu kritisieren. Aber egal, was sie tun, letztendlich braucht es das „beherzte“ Handeln jedes Einzelnen. Dass wir uns zutrauen, die Welt mitzugestalten, auch wenn es nicht immer der bequemste Weg ist. Viele tun das natürlich schon längst, im Kleinen oder im Großen. Was dabei herausspringt? Idealerweise eine gerechtere, nachhaltigere Welt, Inspiration, innere Entwicklung und Sinnhaftigkeit. Ob wir das erreichen, ist unklar. Einen Versuch ist es wert.