Der Fisch und die Selbsterkenntnis

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Schwimmen zwei junge Fische vergnügt daher, kommt ihnen ein älterer Fisch entgegen und sagt: „Morgen Jungs, wie ist das Wasser heute?“ und schwimmt weiter. Da dreht sich der eine junge Fisch zum anderen um und fragt: „Was um alles in der Welt ist Wasser?“

Diese Geschichte stammt aus einer Rede des amerikanischen Schriftstellers David Foster Wallace vor Uni-Absolventen im Jahr 2005. Die Rede hat mir einer, der hier mitliest, letzte Woche zur Inspiration geschickt. Danke dafür!

Die Geschichte will wohl sagen, dass unser Lebensraum oft so normal für uns ist, dass wir ihn gar nicht bewusst wahrnehmen oder reflektieren. Worauf der Autor aber hinaus will, ist dass wir immer die Wahl haben, ob wir uns mit dem, was wir als normal und real wahrnehmen, zufrieden geben und es als die Realität akzeptieren oder ob wir unsere Wahrnehmung von Realität ständig hinterfragen und unser Bewusstsein auf diese Weise entwickeln, schärfen und erweitern.  

Was hätten die Fische davon, wenn sie sich klar darüber wären, dass sie in Wasser leben, was Wasser überhaupt ist, und dass es auch noch andere Lebensformen außerhalb des Wassers gibt? Zum Beispiel Menschen, die statt Wasser Luft zum Atmen brauchen.  

Solange sie sich dessen nicht bewusst sind, schwimmen sie die meiste Zeit auf Autopilot. Sie entfalten nicht ihr volles Bewusstsein dafür, was es bedeutet, ein Fisch zu sein, und schränken sich somit ein. Sie gucken nicht über den Tellerrand ihres Daseins. Sie können auch so Spaß haben, keine Frage. Aber durch diesen Mangel an Selbsterkenntnis bleiben ihnen vielleicht tiefe Dimensionen ihrer Existenz und der Realität, in der sie leben, verborgen – und sie bleiben vielleicht auch hinter ihrem Potenzial zurück: sie wissen nicht, was möglich wäre und können auch nicht entsprechend handeln oder wachsen. 

In der Oster-Post an dieser Stelle ging es um die Bedeutung von Mitgefühl und dort hieß es: Mitgefühl, so stellen die Forscher fest, geschieht auf Augenhöhe. Wir fühlen uns demjenigen, mit dem wir echtes Mitgefühl haben, weder über- noch unterlegen, sondern werden uns des gemeinsamen Menschseins bewusst. 

Aber was bedeutet gemeinsames Menschsein? In der Corona-Krise wurde unserem Autopilot an manchen Stellen abrupt der Saft abgedreht. Wir durften erkennen und erleben, dass wir nicht nur Sauerstoff zum Atmen brauchen, sondern auch soziale Luft: Menschen um uns herum. Dadurch, dass wir uns plötzlich nicht mehr mit Freunden und Verwandten im Café, beim Konzert, zum Feiern treffen können, ist uns eine wichtige Dimension des Menschseins bewusst geworden, die wir bisher als normal angesehen und vielleicht kaum wahrgenommen haben: Als Menschen brauchen wir zwischenmenschliche Kontakte wie die Luft zum Atmen – vielleicht nicht ständig, aber wenigstens als Möglichkeit. Wie sehr, erkennen wir sofort, wenn wir uns vorstellen, Social Distancing werde zum Dauerzustand. (Geht es Dir gerade auch so, dass wenn Du einen Film siehst, in dem die Menschen in einem überfüllten Restaurant sitzen oder ein Fest feiern, dies geradezu surreal und wie aus einer fernen Zeit wirkt?) 

Warum ist menschliches Streben nach Selbsterkenntnis wichtig? Erstens weil wir alle wissen, dass das Aquarium, in dem wir gemeinsam schwimmen, derzeit nicht nachhaltig ist. Weder wirtschaftlich, noch ökologisch, noch sozial. Um das zu erreichen, braucht es einen fundamentalen Bewusstseinswandel. An ein paar Stellschrauben im Sozial- und Wirtschaftssystem zu drehen, reicht nicht aus. Und zweitens, weil viele Menschen irgendwie unzufrieden, einsam oder frustriert, krank oder gestresst sind.

Ich glaube, ein Weg Richtung Heilung ist, dass wir Menschen sowohl tief nach innen gucken und nach unserer wahren Natur forschen als auch weit hinaus ins Universum blicken, und ein universales Bewusstsein dafür entwickeln, was Menschsein, und gemeinsames Menschsein, auf einem kleinen blauen Planeten mit endlichen Ressourcen wirklich bedeutet; dass wir erkennen, wie wir alle miteinander und mit der Natur und dem Kosmos ein Ökosystem und ein Sinnsystem bilden; dass wir nach etwas Größerem, einer tieferen Bedeutung und Sinnhaftigkeit von innen heraus suchen und über die Grenzen unseres Aquariums hinausdenken. Dass wir erkennen, dass wir alle miteinander verbunden sind und jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit wichtig ist, und gleichzeitig auch, dass wir Winzlinge in diesem Universum uns selbst wiederum nicht gar so wichtig nehmen sollten.

Dann haben wir die Chance, uns nicht wie ein Aufziehfisch in der Badewanne leise knatternd im Kreis zu drehen bis wir stehenbleiben. Dann können wir in unsere Eigenermächtigung kommen, die Welt gemeinsam nachhaltig und kreativ umgestalten und innerlich wie äußerlich heilen. Vielleicht ist das der eigentliche Sinn des Menschseins. 

Der Poet David Foster Wallace schließt seine Rede damit, dass es im hektischen Alltag, zum Beispiel an einer überfüllten Supermarktkasse abends, müde nach der Arbeit, oft nicht einfach ist, dies umzusetzen. Aber er sagt auch: „Wenn Du wirklich lernst zu denken und achtsam wahrzunehmen, dann erlebst Du auch, dass es noch etwas Anderes gibt. Dann kannst Du auch in der nervigsten alltäglichen Situation nicht nur etwas Bedeutsames, sondern sogar etwas Heiliges erkennen – dass darin dieselbe Kraft brennt, die auch die Sterne zum leuchten bringt: Liebe, Gemeinschaft, die mystische Einheit aller Dinge. Ob diese mystische Sichtweise wahr ist, ist unerheblich. Wahr ist aber, dass Du entscheiden kannst, mit welchen Augen Du die Welt sehen willst.“

Vielleicht entscheidest Du ja bei der Erforschung des Seins, gar kein Fisch zu sein, sondern eine Raupe, die vor Corona in der Fressphase war, sich während der letzten zwei Monate einen Kokon gebaut hat zur inneren und äußeren Wandlung und Entwicklung, und nun bereit dazu ist, die Flügel zu entfalten und die Welt in einem veränderten Bewusstsein als Schmetterling zu erkunden. Vielleicht bist Du auch schon längst dieser inspirierende Schmetterling in Menschengestalt – guck doch mal nach.