Foto: Martha Randy, Montreal
Fragst Du Dich im Moment auch manchmal, was das, was wir gerade auf der Welt erleben, im tieferen Sinn zu bedeuten hat?
Mir ist diese Woche aufgefallen, dass ich meine Kinder nach vier Wochen zuhause und ohne externe Kontakte etwas anders wahrnehme. Eltern machen viel, damit ihre Kinder im Leben gut klar kommen, Chancen haben, sich entwickeln können. Und dieses System, in das unsere Kinder geboren werden, basiert zu großen Teilen auf vergleichen. Das geht schon sehr früh los – welches Kind schläft wann durch, spricht die ersten Worte, ist wie begabt. Schwupp ist die Schule da, es wird bewertet, benotet und so weiter. Die Kinder kennen gar nichts anderes. Sie nehmen wahr, wer gut in Mathe oder Sport ist, wer beliebt ist, clever, reich, dick, dünn, groß, klein, eine vermeintliche Behinderung hat, wohin in Urlaub fährt usw. Es wird den ganzen Tag verglichen, oft an der Oberfläche, und bewertet. Das ist unsere Normalität.
Und diese Normalität ist gerade ein Stück weit außer Kraft gesetzt. Es gibt keine Noten, keine Vergleichsgeschichten aus der Schule, keine anderen Menschen, mit denen sie sich messen oder die man kritisch bewertet. Im Moment ist das Gefühl von Raum und Zeit auf merkwürdige Weise ausgehebelt. Das System macht Pause. Die Kinder SIND einfach. Und ich habe das Gefühl, ich nehme sie mehr in ihrem eigentlichen Wesen wahr, unverstellt von Erwartungen, Maßstäben und Stundenplänen. Es ist, als würde ich ihre Seele stärker spüren als sonst.
Mit meinen Wortschleife-Kunden ist es ähnlich. Als jemand, der Texte bearbeitet, habe ich viele meiner Kunden noch nie persönlich getroffen, weil das meiste am Telefon und per Email geht. Aber ich treffe gerade Seelen, für die ich seit Jahren arbeite, die mir aber unbekannt waren. Was vorher eine freundliche und sachliche Zusammenarbeit in gegenseitiger Wertschätzung war, fühlt sich jetzt ganz anders an. Ich erfahre, wie Kunden die Betreuung ihrer kleinen Kinder mit dem Home Office jonglieren, wie sich eine Kundin auf unabsehbare Zeit zwischen ihrem Arbeitsort in der Schweiz und ihrem Partner in Deutschland entscheiden musste. Wie ein Kunde in seiner frisch bezogenen 7er-WG in Berlin zurecht kommen muss, wo von jetzt auf gleich alle sieben Bewohner im Home Office zusammengepfercht sind. Auf einmal erlebe ich die Kunden menschlich, verletzlich und auch stark und fokussiert. Viele haben mich sofort besorgt gefragt, ob ich als Freiberuflerin stark betroffen sei, und ich konnte berichten, dass meine Auftragslage bisher stabil ist. Ich stelle fest, dass sie die Rechnungen schneller bezahlen als sonst, damit ich mir keine Sorgen mache – selbst wenn sie selbst schon in Kurzarbeit sind. Ich spüre ihr Mitgefühl mit mir und ich spüre mein Mitgefühl mit ihnen. Ich schreibe die Texte für sie mit noch mehr Herzblut als sonst, weil ich sie anders und stärker wahrnehme. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass das nach Corona alles wieder rückwärts geht. Hoffentlich nicht!
Das Virus vergleicht nicht. Es unterscheidet nicht zwischen dem Buckingham Palace und den brasilianischen Favelas, zwischen einem bekannten Gesicht aus Hollywood und einem unbekannten Gesicht in einem Flüchtlingslager. Das wird uns gerade bewusst und führt an vielen Stellen zu mehr Mitgefühl. Menschen gehen behutsamer miteinander um. Auch wenn uns jeden Tag die Corona-Vergleichszahlen präsentiert werden und manche Kurven flacher sind als andere, wirkt der Vergleich schal, zumal im dicht besiedelten Europa und bei einer globalen Wirtschaft. Das Virus interessiert sich nicht für Länder, Nationalitäten, Systeme oder Grenzen.
Wenn ich früher an die Erde dachte, habe ich acht Milliarden häufig hektische Menschen gesehen, die teils um ihre Existenz kämpfen, teils auf der Suche nach mehr Anerkennung, dem richtigen Weg, dem ganz besonderen Urlaub und anderem mehr durchs Leben hetzen – wuselig wie auf einem Ameisenhaufen. Wenn ich jetzt an die Erde denke, sehe ich acht Milliarden Lichter, die gerade stillstehen und sich gegenseitig wahrnehmen. Diese Lichter strahlen alle gleich hell und irgendwie auch alle zusammen.
Mitgefühl, so stellen die Forscher fest, geschieht auf Augenhöhe. Wir fühlen uns demjenigen, mit dem wir echtes Mitgefühl haben, weder über- noch unterlegen, sondern werden uns des gemeinsamen Menschseins bewusst. Der buddhistische Mönch und Neurowissenschaftler Thupten Jinpa schreibt: „Mitgefühl gibt uns die Möglichkeit, auf das Leiden mit Verständnis, Geduld und Güte zu reagieren anstatt mit Angst und Abwehr.“ Durch Mitgefühl werden wir geduldiger und verständnisvoller mit uns selbst und anderen. Es bietet unserem Geist eine Alternative zu Wut, Groll und anderen impulsiven Gemütslagen. Mitgefühl erlaubt es uns auch, das Wohlwollen anderer Menschen besser anzunehmen und ist wie ein Kompass zu einer geheilten Welt. Der Dalai Lama vertritt sogar die Auffassung, dass Mitgefühl eine Voraussetzung für das Überleben der Menschheit ist. Er sagt auch: „Im Westen habt ihr Bildung. Das ist gut. Ihr habt Technologie. Das ist gut. Aber ihr bildet eure Leute nicht in den Werten des Herzens, in Mitgefühl. Das müsst ihr unbedingt tun. [...] Es spielt keine Rolle, ob ihr Buddhisten oder Christen seid. Mitgefühl lebt im Herzen, jenseits von Religion. Selbst ich als Buddhist kann sagen, dass ihr den Buddhismus nicht braucht. Alles was ihr braucht ist Mitgefühl des Herzens.“
Morgen ist Ostern, das wichtigste christliche Fest. Die Auferstehung Christi symbolisiert Neuanfang. Sie ist ein Bekenntnis zu Glaube, Leben und Hoffnung – durch Jesus, der wie kaum ein zweiter Mensch in unserer Geschichte und Kultur Mitgefühl verkörpert.
Nach normalen Ostersonntagen kehren wir schnell in unseren Alltag zurück. Dieses Jahr ist alles anders. Ob der Sinn dieser Zeit ist, dass wir ein stärkeres Bewusstsein für das gemeinsame Menschsein entwickeln? Ob diese Zeit uns den Weg in eine Welt mit weniger Vergleich und mehr Mitgefühl weist? Ob wir gerade erleben dürfen, dass Mitgefühl ungeheuer „systemrelevant“ ist? Wo wir als Menschheit wohl nächstes Jahr an Ostern stehen? Auf die Antworten müssen wir wohl noch ein bisschen warten. In Geduld üben wir uns ja gerade sowieso. Nutzen wir die Zeit also, uns ein paar Gedanken zu machen, die Welt genauer zu spüren, und vielleicht gelingt es uns, dass am Ende etwas Gutes für die Menschheit dabei herauskommt. Das dürfen wir uns alle wünschen.