„Zu leben ist die ungewöhnlichste Sache der Welt. Die meisten Menschen existieren einfach nur,“ schrieb Oscar Wilde einmal. Schon in „guten Zeiten“ ist es nicht immer einfach, erfüllt und unbeschwert zu leben, geschweige denn mit zwei Jahren Pandemie auf dem Buckel und einem Krieg in Europa, wo keiner weiß, was noch auf uns zukommt. Manchmal denkt man sich: „Kann bitte mal jemand auf den Pausenknopf drücken? Kann das Leben bitte mal kurz einfach sein?“
Wenn wir die Ereignisse in der Welt als belastend empfinden – was passiert da in uns? Wir fühlen uns innerlich unfrei und eng. Wir hadern mit Sorgen und Ängsten – vielleicht kommen sogar Kriegstraumata unserer Vorfahren hoch. Es fehlt an Leichtigkeit, Zuversicht, Freude und dem Gefühl von Selbstwirksamkeit. Wenn dann noch Herausforderungen im Privaten dazukommen, wird es richtig anstrengend.
Ich stelle mir vor, Oscar Wilde meinte mit „leben“, sich trotz aller Widrigkeiten innerlich frei zu fühlen. Jeder von uns hadert in unterschiedlichem Maß mit Gefühlen der Unfreiheit; mir geht es eigentlich immer so, wenn ich irgendein Unbehagen verspüre. Das gehört zum Leben dazu und wir können im Alltag meistens ganz gut damit umgehen. Wenn das Unbehagen überhandnimmt, neigen wir dazu, in Aktion zu treten, um einen Zustand herzustellen, in dem wir uns wieder besser fühlen. Aber das ist nicht immer möglich.
Gerade in Zeiten großer Unsicherheit ist es deswegen vielleicht besonders wichtig, uns um innere Freiheit zu bemühen. Dann können wir in unsere Kraft kommen. Außerdem meine ich, dass die äußere Welt ein Abbild unseres inneren Zustands ist. Je friedlicher, freier und versöhnlicher jede:r Einzelne innerlich wird, umso friedlicher, freier und versöhnlicher kann auch die Welt werden.
Aber wie schafft man das? Über die „Kunst zu leben“ schreibt eindrucksvoll der bereits erwähnte, kürzlich verstorbene Friedensaktivist, Autor und buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh. Innere Freiheit zu erlangen und aktiv Frieden zu stiften, sind Themen, die er sein Leben lang lehrte und lebte. Er wurde in dieser Hinsicht besonders aktiv während des Krieges in seiner Heimat Vietnam.
Thich Nhat Hanh lädt uns ein, mit folgenden Fragen zu beginnen: Wonach sehne ich mich? Wonach suche ich? Worauf warte ich? Um Antworten darauf zu finden, sollten wir innehalten, tief in uns hineinspüren und aufhören zu rennen. Und das ist gar nicht so einfach. Seit Jahrtausenden ist der Mensch in Krisensituationen auf Flucht und Kampf programmiert. Durch Aktion versuchen wir, dem Stress der Bedrohung zu entkommen. Oft fällt es uns deshalb schwer (auch wenn heutzutage eher selten ein Säbelzahntiger vor uns steht), erst einmal in Ruhe zu fühlen und den Reaktions-Impuls vorbeiziehen zu lassen.
Wenn wir also innehalten und fokussiert wahrnehmen, seien es Emotionen, körperliche Empfindungen, Atem, Herzschlag, äußere Geräusche, die Natur – dann erleben wir Einklang. Wir gehen (mit etwas Übung) eine tiefe Verbindung mit dem gegenwärtigen Moment und mit uns selbst ein, mit unserem Körper und unseren feinstofflichen Aspekten. Wir „transzendieren“ sozusagen das Chaos der äußeren Welt. Idealerweise stellen sich Klarheit, Zuversicht und Freiheit ein. In diesem Moment erledigen sich typischerweise die genannten Fragen, denn es ist schon alles da: Wir ruhen im Sein.
Was Thich Nhat Hanh hier lehrt, ist Achtsamkeit – mit Zufriedenheit, Freiheit und dem Wunder des Lebens bewusst in Kontakt zu treten und daraus Erfüllung und Glück zu schöpfen, damit wir diesen Geist in die Welt tragen können.
Oft stolpern wir auf diesem Weg aber noch über eine andere Hürde: Wir zweifeln an uns selbst, können uns nicht vollständig akzeptieren (so wie wir eine Blume am Wegesrand akzeptieren). Nur wenige Menschen haben vollständige Selbstakzeptanz gelernt, denn in unserer Gesellschaft ist Akzeptanz meistens an Bedingungen geknüpft. Mehrheitlich glauben wir, wir seien nicht genug und müssten uns die ganze Zeit anstrengen und uns beweisen, wie schon unsere Eltern und Großeltern vor uns. Auch hier hilft innehalten und gewahr werden. Mit etwas Übung stellt sich die Erkenntnis ein, dass wir nichts tun oder erreichen müssen, um irgendwer oder irgendwas zu sein. Selbstakzeptanz können wir nur tief in uns finden – niemals in der äußeren Welt.
Und wie macht man das im Alltag? Wenn Du morgens aufwachst, was geht Dir als erstes, zweites und drittes durch den Kopf? Bei vielen Menschen klopft sofort eine lange To-Do-Liste an und Zeitdruck setzt ein, man fühlt sich erschöpft, noch ehe man einen Fuß auf den Boden gesetzt hat. Oder man denkt sofort an den Krieg oder an all die persönlichen Sorgen. Man ist überall in der Welt, nur nicht bei sich. Eine andere Möglichkeit könnte sein, die Augen erst einmal bewusst geschlossen zu halten, einen Moment lang seinen Körper zu spüren und den Atem; man hört vielleicht Vögel zwitschern, bleibt einen Moment im Hier und Jetzt und wird sich bewusst, was für ein Wunder es ist zu leben, hier zu sein an diesem neuen Tag, in dieser Sekunde, eine physische Existenz zu haben, Freude zu erleben … Mit Übung gelingt es immer besser, dieses Bewusstsein, diese Zentriertheit, in den Tag zu integrieren, öfters mal die Nachrichten abzuschalten, das Handy wegzulegen, innezuhalten und dem Alltag immer wieder bewusst in Leichtigkeit und Freiheit zu begegnen.
Was heißt das nun für den Umgang mit unseren Krisen? Freiheit bedeutet, sich nicht zum Opfer der Umstände machen zu lassen. Wenn wir uns innerlich frei fühlen und uns selbst akzeptieren, können wir kraftvoll und kreativ anpacken und die Situation und die Welt da verbessern, wo es in unseren Möglichkeiten liegt – selbstbewusst, in kleinen Schritten, ohne das überwältigende Gefühl, die Welt retten zu müssen. Dann können wir aufmerksam zuhören und mitfühlend wahrnehmen, was wirklich nötig ist. Kommunikation und Organisation aus dieser klaren Geisteshaltung heraus sind wirksam und voller Vitalität, getragen von einer hohen Qualität des Seins.
Frieden, Glück und Freiheit sind in dieser „Kunst zu leben“ (bei der sich Oscar Wilde und Thich Nhat Hanh irgendwie die Hand geben) weder Ziele noch Hoffnungen, sondern Praktiken. Es sind innere Haltungen, die in uns schlummern und die wir immer wieder achtsam üben und in die Praxis umsetzen dürfen, auch um das Leid anderer zu lindern. Aus meiner Sicht gibt es kaum eine sinnvollere Beschäftigung, und es darf dabei auch gelacht und gealbert werden.
Quelle:
Thich Nhat Hanh: Leben ist, was jetzt passiert/The Art of Living (2018/2017)