Sphaera von Stephan Balkenhof, Salzburg
Im Jahr 1957 wurde in Thailand eine Autobahn durch ein Gebiet gebaut, in dem sich ein uralter Tempel befand. Eine riesige Buddha-Statue aus Ton musste versetzt werden. Als der Kran die schwere Statue anhob, entstanden Risse im Ton. Als man die Statue wieder absetzte, entdeckte man, dass aus den Rissen Licht austrat. Unter der äußeren Tonschicht verbarg sich ein Buddha aus massivem Gold. Historiker vermuten, dass der goldene Buddha einige Jahrhunderte zuvor von den damaligen Mönchen mit Ton ummantelt worden war, um ihn vor dem Diebstahl oder der Zerstörung durch Soldaten im bevorstehenden Burma-Krieg zu schützen. Die Mönche kamen in dem Konflikt alle ums Leben und mit ihnen verschwand das Wissen um den goldenen Buddha.
Die heutigen Mönche sagen, diese Geschichte symbolisiere den menschlichen Reflex, angesichts von Bedrohungen oder Herausforderungen unser wahres Wesen unter einer Schutzschicht zu verbergen. Wenn wir im Leben leiden, liege das oft daran, dass wir uns allzu sehr mit dieser äußeren „Schutzschicht“ identifizieren und das wahre, strahlende, liebevolle Bewusstsein vergessen haben, das dem Menschen innewohnt. Das finde ich einen interessanten Gedanken.
Gestern ging ich nach getaner Arbeit, wie so oft, an unserem Fluss spazieren. Barfuß, wie ich es bei milden Temperaturen gerne tue. Ich war bedrückt wegen des Blutvergießens in Israel und hörte Musik zur Aufmunterung. Als das Lied zu Ende war, zog ich mein Handy aus der Tasche, um eine andere Musik auszuwählen, und bemerkte nach einer Weile, dass eine Dame in gewisser Entfernung vor mir stand und auf mich einredete. Dabei wirkte sie nicht gerade freundlich. Um sie zu verstehen, nahm ich also meine Ohrstöpsel heraus. Sie sagte, da ich barfuß unterwegs sei, wolle ich mich offensichtlich erden, und da sei es doch total kontraproduktiv, auf mein Handy zu starren. Ich solle doch das blöde Handy wegwerfen!
Mein spontaner Reflex war, aus meiner „Schutzschicht“ heraus barsch zu reagieren und sie zu fragen, was sie das denn bitte angehe. Aber es gelang mir, mich bewusst mit meinem inneren „goldenen Buddha“ (kitschiges Bild, ich weiß :-)) zu verbinden. Ich sah die Dame an und machte mir klar, dass sie es gut meint und dass sie offensichtlich Sympathie für meinen Barfußspaziergang hat. Und dass sie gerade jede Menge Annahmen über mich getroffen hat, weil sie mich gar nicht kennt. Ich lächelte sie also an, bedankte mich für den Hinweis und sagte ihr, dass meine Musik gerade zu Ende sei und ich eine neue aussuche. Da wurde sie ganz ruhig und freundlich, sagte, „Ach so“, und ging ihrer Wege. Auf dem Rückweg dachte ich darüber nach, dass mich zu „erden“ eigentlich nicht mein Grund dafür ist, barfuß zu gehen, jedenfalls nicht bewusst, aber vielleicht unbewusst?
Diese Woche hörte ich einen Vortrag zum Thema „Verantwortung“ von dem indischen Autor, Mystiker und Yogi Jagadesh Vasudev, bekannt als Sadhguru. Er sagte, dass wir in der westlichen Welt ein Verständnis von Verantwortung haben, das viel mit Pflicht, Last und Moral zu tun hat und uns viel Energie raubt. In seinem Verständnis bedeutet Verantwortung – im Englischen „responsibility“ von „response-ability“ – lediglich, die Fähigkeit, bewusst auf die Welt zu antworten oder zu reagieren. Auch im Deutschen steckt ja das Wort „Antwort“ in der Verantwortung. Es geht darum zu erkennen, dass Menschsein sich zu einem wesentlichen Teil in der Fähigkeit ausdrückt, bewusst auf das Leben zu antworten. Das hat nichts mit „müssen“ zu tun, sondern damit, Dinge klar zu sehen, Impulse wahrzunehmen, und sich besonnen und möglichst intelligent zu entscheiden, wie ich angemessen handle und reagiere. Zum Beispiel wenn mich jemand ärgert oder „triggert“, ob ich dann reflexartig aus meiner äußeren Schutzschicht heraus reagiere, vielleicht zurückschieße, mich ärgere, wütend werde, oder ob ich mir meiner Impulse bewusst werde und mir klar mache, dass eine andere Reaktion angemessener wäre, und diese wähle. Dass ich also nicht auf Autopilot mit all meinen Gewohnheiten, unhinterfragten Mustern, Triggerpunkten und kollektiven Verhaltensweisen durchs Leben gehe, sondern immer öfter bewusst und gezielt.
Um diese Fähigkeit, die wir in uns tragen, zu veranschaulichen, lädt Sadhguru uns zu folgender Übung ein:
Schließe zunächst Deine Augen und visualisiere die Gesichter der zwei oder drei Menschen, die Dir am nächsten stehen und fühle für einen Moment diese starke Liebe und Zuneigung, die Du für sie empfindest.
Visualisiere im nächsten Schritt die Gesichter von drei Menschen, die Dir nicht ganz so nahe stehen, die Du aber schätzt. Stelle sie Dir so genau wie möglich vor und aktiviere dasselbe Gefühl für sie wie für Deine Liebsten. In aller Regel gelingt das erstaunlich gut.
Visualisiere in einem dritten Schritt die Gesichter von drei Menschen, die Dir unbekannt sind. Von denen Du vielleicht mal ein Foto gesehen hast, aber die Du nicht persönlich kennst, und aktiviere abermals dasselbe Gefühl für sie. Auch das klappt in aller Regel unerwartet gut.
Diese Übung zeigt uns unsere „Verantwortung“ – die Fähigkeit, unsere „Antwort“ auf unsere Umwelt bewusst zu gestalten. Normalerweise (re-)agieren wir im Umgang mit Fremden aus der äußeren Tonschicht heraus und schotten unser Gefühlsleben ab. Wenn es uns gelingt, gegenüber Fremden liebevolle Gefühle zu aktivieren (es ist eine Art von unpersönlicher Liebe, weil wir die Menschen ja nicht persönlich kennen), dann erlauben wir uns, auch durch ihre äußere Tonschicht hindurchzusehen und ihr strahlendes Wesen zu erkennen. Das kann man üben.
Dabei entwickeln wir zusätzlich noch unser Bewusstsein für die Inklusivität des Lebens. Was heißt das? Wenn ich mit Dir einen Apfel teile und jeder von uns eine Hälfte isst, dann wird derselbe Apfel und seine Nährstoffe zu einem Teil von uns. Wir bestehen also beide ein Stück weit aus demselben Apfel. Und egal ob der Apfel in meinem Garten in Augsburg oder auf einer Plantage in Neuseeland gewachsen ist, konnte er nur gedeihen, weil er Sonnenlicht abbekommen hat, von derselben Sonne, die wir alle zum Leben brauchen und die in uns allen wirkt – sowohl direkt als auch über den Apfel. Wenn ich neben dem Apfelbaum stehe und atme, so atme ich Kohlendioxid aus und nähre damit den Baum, der Sauerstoff produziert und mich damit nährt. Apfel, Baum, Sonne, Du, ich, wir sind alle „inklusiv“ im Lebensprozess – wir antworten uns gegenseitig – und sind somit „response-able“, d. h. für einander verantwortlich. All dies tun wir in der Regel unbewusst.
Wenn wir in unserem sozialen, emotionalen und gedanklichen Leben immer klarer erkennen, dass wir in jeder Situation viele Möglichkeiten haben und immer bewusster entscheiden können, wann wir wie reagieren wollen, dann gehen wir freudvoller, mitfühlender und energiegeladener durchs Leben. Wir schälen dann Schritt für Schritt die Tonschicht ab, weil wir merken, dass wir keinen emotionalen Schutzschild aufrechterhalten müssen, sondern aus unserem wahren Kern heraus handeln können. Das Leben kommt dann in einen ungeahnten Fluss und – wie Sadhguru sagt – die Menschheit bewegt sich dann behutsamer über den Planeten und kommt immer mehr dazu, das Notwendige zu tun.
Es gibt dabei kein richtig oder falsch. Hundert Menschen können in einer Situation hundert verschiedene Entscheidungen treffen, denn die Welt ist vielfältig. Wichtig ist nur, dass die Entscheidungen nicht aus oberflächlichen Reflexen oder Abwehrmechanismen heraus getroffen werden, sondern aus einem tiefen Bewusstsein, aus einer Besonnenheit heraus. Das ist Verantwortung.
Ich wünsche Dir viel Erfolg beim Abschälen Deiner Tonschicht. Vielleicht wirst Du überrascht davon sein, wie hell es darunter strahlt.
Quellen: Tara Brach – Radical Compassion; Sadhguru – Inner Engineering