„Besinnliche Feiertage“ wünschen wir uns gerne in der Weihnachtszeit. Aber was wollen wir eigentlich damit sagen, wenn es keine bloße Floskel sein soll?
Sollen wir der Weihnachtszeit Sinn geben? Die Welt mit all unseren Sinnen wahrnehmen? Oder uns der tieferen Dimensionen der Dinge bewusst werden – weil wir das im restlichen Jahr zu wenig tun? All das ist beim derzeitigen Zustand der Welt sicher nötig, und vermutlich sollten wir das Besinnen zu einem Dauerzustand statt zu einer saisonalen Aktivität machen.
Ich habe meine besinnlichen Tage in diesem Jahr vorgezogen und mir ein intensives Programm verordnet: 40 Tage lang habe ich zweimal täglich eine spezielle, etwa 30-minütige Abfolge aus Atem- und Achtsamkeitssübungen absolviert. Immer auf nüchternen Magen und basierend auf jahrtausendealtem yogischem Wissen. Es verlangt Ausdauer, sich konsequent mindestens eine Stunde am Tag der inneren Realität zu stellen – vor allem, wenn man gerade eigentlich jede Menge andere Dinge zu tun hätte.
Aber es hat sich gelohnt. Ich fühle mich innerlich so ruhig und ausgeglichen wie vielleicht noch nie zuvor. Viele meiner üblichen Rückenverspannungen haben sich verabschiedet. Ich habe das Gefühl, dass meine Sinne geschärft sind, auch die intuitiven. Durch diese intensive Innenschau und die minimalistische Auseinandersetzung mit Atem, Körper und Geist wird man im Alltag besonders sensibel für Sinn – und mehr noch für Unsinn. Man könnte auch sagen, der „Bullshit-Detektor“ wird feinfühliger.
Bei Heilmethoden, Meditation, Yoga und ähnlichem geht es oft darum, die Dinge, die Welt und sich selbst immer klarer zu sehen. Dass man seine eigenen Muster, Zwänge und Reaktionen erkennt. Dass man versteht, wo man sich vielleicht selbst etwas vormacht, oft unbewusst, weil die Wahrheit unbequem oder schmerzhaft wäre. Das machen wir alle, denn es ist menschlich, sich zu schützen. In einer weiteren Dimension geht es darum zu erkennen, welche Bären wir uns kollektiv aufbinden. Denn es ist unbestritten, dass wir auch alte genetische und kulturelle Programme unserer Vorfahren und kollektive Erfahrungen und historische Muster in uns tragen, die uns heute nicht immer dienlich sind und für die wir manchmal blind sind.
Wie sehen diese individuellen und kollektiven Muster konkret aus? Ein Freund, der in einer Krisenregion lebt, erzählte letzte Woche von einer Frau, die in einem Fernsehinterview kämpferisch und trotzig klang, als sie darüber sprach, dass ihr Sohn bei Kampfhandlungen ums Leben gekommen sei, und dass sie stolz sei, dass er sein Leben für ein höheres Ziel geopfert habe. Ich fühle mit dieser Frau. Und mein Bullshit-Alarm hat sofort angeschlagen. Ich kann mir kaum vorstellen, wie schmerzhaft es für diese Mutter sein muss, ihren Sohn verloren zu haben. Denn man kann wohl sagen, dass alles Blutvergießen und alle Kriege dieser Welt unterm Strich barbarisch, lebensfeindlich und unendlich tragisch sind und dass das Kartenhaus des „höheren Ziels“ bei näherer Betrachtung schnell in sich zusammenfällt und einen Trümmerhaufen politischen und menschlichen Versagens und ein einziges Jammertal zurücklässt. Das Festhalten an einem „höheren Ziel“ kann ein Bewältigungsmechanismus sein und einer Mutter möglicherweise irgendwie helfen, das Unerträgliche zu rechtfertigen, sonst würde es sie innerlich zerreißen.
Kürzlich habe ich an einem Workshop teilgenommen, in dem es um unsere kollektiven gesellschaftlichen Muster ging. Der weise Lehrer wies darauf hin, dass im kollektiven Bewusstsein der christlich geprägten Welt seit zwei Jahrtausenden die Vorstellung existiert, dass der Mensch leiden muss, um zu Gott zu gelangen. Dass die Kreuzigung Christi oft so interpretiert und den Menschen vermittelt wurde. Auch hier haben wir es mit einem vermeintlichen „höheren Sinn“ des Leidens zu tun.
Ein gewisses Maß an Leid gehört unvermeidlich zur menschlichen Lebenserfahrung. Vielleicht haben die Menschen sich und anderen lange Zeit eingeredet, Leiden führe zu Gott, um es besser ertragen zu können. Oder auch als Rechtfertigung für das Leid, welches sie anderen zufügten. Die Geschichte Jesu spricht jedoch nicht für diese Deutung. Jesus war offensichtlich schon vor seiner Kreuzigung bei Gott angekommen, sozusagen erleuchtet. Dafür hätte es weder des Leidens noch der Kreuzigung bedurft. Er, der menschgewordene Sohn Gottes, lehrte und verkörperte nicht das Leiden, sondern Liebe und Vergebung.
Jesus wurde wohl vor allem deshalb ans Kreuz genagelt, weil er ein wandelnder Bullshit-Detektor war – und entsprechend handelte. Er setzte sich mit den von der Gesellschaft Verachteten und Ausgestoßenen an einen Tisch. Er ging in den Tempel und vertrieb die Händler und Verkäufer, die aus einem Ort des Gebets ein Zentrum des Kommerzes gemacht hatten. Bei Markus 11,18 heißt es über die Begebenheit im Tempel: „Und es kam vor die Schriftgelehrten und Hohenpriester; und sie trachteten, wie sie ihn umbrächten. Sie fürchteten sich aber vor ihm.“
Das Besondere an Jesus ist, dass er mit großer Klarheit sah, wenn Menschen oder die Gesellschaft sich etwas vormachten, und dass er sie dafür nicht verurteilte, sondern ihnen einen anderen Weg aufzeigte und vorlebte, den Weg des „Lichts der Welt“. Von ihm können wir lernen, nichts unhinterfragt zu lassen, und dass es dabei nicht darum geht, sich selbst oder andere zu kritisieren, sondern um eine höhere Wahrheit und um die Konzentration auf das Wesentliche. Und dass dies liebevoll möglich ist.
Was würde das Geburtstagskind wohl dazu sagen, wie das „christliche Abendland“ heutzutage seinen Geburtstag feiert? Vermutlich hätte er nichts gegen das ursprünglich heidnische Symbol des Weihnachtsbaums, das etwas mit der Wintersonnenwende zu tun hat und für Leben, Schutz und Fruchtbarkeit steht. Dass allein in deutschen Wohnzimmern jedes Jahr rund 25 Millionen gefällte Nadelbäume stehen, fände er möglicherweise wunderlich. Vielleicht hätte er auch ein paar Fragen zu den Themen Weihnachtsmann, Rentiere und blinkender Coca-Cola-Laster. Und wie würde er dazu stehen, dass Weihnachten vom Leistungsgedanken erfasst wurde? Dass das Fest der Freude gerade in gutbürgerlichen Haushalten heutzutage oft ein einziger organisatorischer Stress rund um den perfekten Abend, das perfekte Essen, die perfekte Geschenke und die perfekte Stimmung ist? Dass das „Weihnachtsgeschäft“ ein bedeutender Wirtschaftsfaktor ist? Und dass das Fest der Familie und der Freude in dieser dunklen Jahreszeit für Millionen von Menschen die schwierigste Zeit des Jahres ist, in der sie sich einsam und erschöpft fühlen, unter familiärem Erwartungsdruck oder Depressionen leiden?
Weihnachten kann freudvoll und fröhlich sein, wenn wir den Wunsch nach „Besinnlichkeit“ ernst nehmen, wenn wir in uns hineinhorchen und hineinspüren. Wenn wir unsere wahren Bedürfnisse und die der Menschen um uns herum und in der Welt behutsam wahrnehmen und ihnen Raum geben und all den „Un-Sinn“ rund um Weihnachten abstreifen.
Ich ziehe meinen Hut vor jeder und jedem, die oder der sich auf den Weg macht, die eigenen Muster und Denkweisen zu hinterfragen und zu erforschen, den Blick auf die Welt immer klarer werden zu lassen und auch danach zu handeln – egal was die Gesellschaft tut, denkt oder erwartet. Denn das kostet oft Kraft, ist manchmal ein Schwimmen gegen den Strom, gelegentlich schmerzhaft, aber immer lohnend.
In diesem Sinne wünsche ich Dir und uns allen besinnliche Feiertage, ein besinnliches neues Jahr und ein besonnenes Leben in einer besonnenen Welt.