Theta Insel

View Original

Die Kunst, einen Raum zu halten

“Der hl. Franziskus predigt den Vögeln”, Fresco um 1295/1300, Giotto, S. Francesco, Assisi

Kennst Du den Begriff „Holding Space“? Zu deutsch in etwa, „für jemanden einen Raum halten“? Wenn Du in irgendeiner Form therapeutisch oder im Coaching tätig bist oder Gruppen unterrichtest, besonders solche, in denen es im weitesten Sinn um Selbstentwicklung geht, ist Dir dieses Konzept sicherlich schon begegnet. 

„Holding Space“ bedeutet zunächst, dass man für eine oder mehrere Personen einen sicheren Raum schafft, in dem die Grundbedürfnisse aller Beteiligten gedeckt sind und in dem sie sich emotional so sicher fühlen, dass sie sich ausdrücken oder auch verletzlich zeigen können, ohne die Sorge, be- oder verurteilt zu werden.

Da mich das Thema beschäftigt, habe ich kürzlich einen meiner Lehrer, der diese Kunst aus meiner Sicht hervorragend beherrscht, danach gefragt, wie er das macht. Bei ihm habe ich manchmal das Gefühl, diesen besonderen Raum geradezu anfassen zu können. Kurzerhand entschied er, jetzt im Dezember einen Workshop dazu anzubieten, den ich sehr aufschlussreich fand.

In einem solchen Raum ist der „Lehrer” nicht in erster Linie dazu da, seinen Schüler:innen Stoff zu vermitteln, sondern ihnen die Möglichkeit zu eröffnen und sie dazu zu inspirieren, sich selbst zu entwickeln. Er begleitet sie dabei, indem er den Raum für sie „hält“, wie eine Decke, unter der sie sich gut aufgehoben fühlen.

Damit man als Lehrer/Coachin/Therapeutin usw. in der Lage ist, einen solchen sicheren Raum „aufzumachen“, gibt es eine wichtige Grundvoraussetzung: Man muss diesen Raum zunächst für sich selbst schaffen und halten können; man muss sich selbst wohl und sicher in der eigenen Haut fühlen, im Einklang mit sich selbst und möglichst mit der Welt stehen, ganz präsent im Hier und Jetzt. Idealerweise stahlt man dieses positive Selbst-Gefühl aus und es überträgt sich auf die Menschen um einen herum. Dann formt sich eine Art energetische Blase im positiven Sinn, geprägt von Sicherheit und gegenseitigem Respekt. 

Warum schreibe ich hier darüber? Einerseits weil ich denke, dass es letztendlich für jeden Menschen, der mit anderen Menschen interagiert, sinnvoll ist, sich zu fragen, wie zeige ich mich anderen Menschen? „Halte ich den Raum“ für sie? Beim Abendessen für meine Kinder? Im Meeting mit meinen Kollegen? Im Kurs, den ich unterrichte, für meine Teilnehmer:innen? Beim Bier mit meinen Freunden? Halten sie den Raum für mich? Gibt es da eine andere Person, die diese Rolle übernimmt? Machen wir das alle gegenseitig? Oder keiner? Sind diese Situationen von Vertrauen und Sicherheit geprägt? Wie fühlt sich das jeweils an?

Der Unterschied zwischen einer typischen „normalen“ Unterhaltung und „Holding Space“ ist, dass wir bei einer normalen Unterhaltung oft darauf konzentriert sind, was unser Gegenüber als nächstes sagt und uns nebenher schon unsere Antwort zurechtlegen, vielleicht lösungsorientiert in die Zukunft denken und Vorschläge machen, oder aber den Bezug zu uns selbst und den eigenen Erfahrungen suchen. „Holding Space“ hingegen bedeutet vor allem, unvoreingenommen zuzuhören im Hier und Jetzt und für die andere Person und deren Emotionen offen und da zu sein und ihnen Sicherheit zu geben.

Wenn jemand einen solchen Raum aufmacht, zum Beispiel in einem Kurs, kann es sich so anfühlen, als sei unser Alltagsverständnis von Raum und Zeit außer Kraft gesetzt. Der Raum ist so angenehm, dass der Gedanke, diesen wieder zu verlassen und in den Alltag zurückzukehren, geradezu befremdlich wirkt. Vielleicht kennst Du das.

Die Erfahrungen, die ich persönlich mache, wenn ein Lehrer gut darin ist, „Raum zu halten“ sind so tief und irgendwie magisch, dass ich denke, dass darin ein gesellschaftliches Potenzial schlummert, das weit über einen Kurs oder eine Coaching-Sitzung hinaus geht. Das ist ein weiterer Grund, warum ich hier darüber schreibe.

Auch wenn das Konzept des „Holding Space“ vor allem in modernen therapeutischen Kontexten benutzt wird, ist es an sich uralt und spiegelt sich in vielen Kulturen wider. Eine traditionelle Gelegenheit speziell in unserer Kultur ist sicherlich das Weihnachtsfest. Vielleicht (hoffentlich) hast Du schöne Kindheitserinnerungen daran, wie der Weihnachtsabend endlich begann und wie man plötzlich in einen anderen Raum eintauchte. Es wurde still, irgendwie feierlich, vielleicht gab es gemeinsames Singen, Kerzen, ein Glöckchen. Irgendwie passierte etwas Mystisches, Magisches und innerlich Beglückendes. Sorgen waren für den Moment vergessen, man fühlte sich im Einklang mit sich selbst, der Familie und der Welt. Die Zeit stand still, der Raum schien eine andere Textur zu haben als sonst. 

Wer heute selbst Kinder hat und Weihnachtsabende „managt“, schafft vielleicht selbst genau diesen magischen Raum für die Kinder und die Familie. Vielleicht fällt es sogar ganz leicht und bereitet Freude. 

Interessanterweise feiern wir ja an Weihnachten die Geburt eines Menschen, der seit 2000 Jahren bekannt ist, weil er irgendwie anders war. Und bei genauem Hinsehen lässt sich feststellen, Jesus tat genau das: Er war ein Meister des „Holding Space“ für andere Menschen, und besonders für solche, die gesellschaftlich nicht anerkannt waren. Er gab ihnen seine volle Aufmerksamkeit, aß mit ihnen, zollte ihnen Respekt, urteilte nicht über sie, heilte sie. Aus dieser ungewöhnlichen Herangehensweise an das Leben ist eine Gemeinschaft entstanden, die sich Christenheit nennt. Wieviel dabei von Jesus Kunst übriggeblieben ist, den Raum für andere Menschen zu halten, ist fraglich.

Und es ist ganz klar, dass jede gute Lehrerin und jeder Therapeut in einer privaten Interaktion anders kommuniziert als in einer beruflichen Gruppensituation und nicht immer damit beschäftigt ist, Raum für andere Menschen zu halten. Aber ein Bewusstsein dafür zu entwickeln und seine Fähigkeiten in dieser Hinsicht auszubauen, kann sicherlich eine positive Wirkung auf den eigenen Alltag entfalten. Und wenn wir Menschen um uns herum haben, die das ähnlich machen, wo ein solcher Umgang auf Gegenseitigkeit beruht, können Freundschaften und Beziehungen sehr tief werden.

Je mehr Menschen diese Kunst pflegen (manchen scheint diese Begabung in die Wiege gelegt, man empfindet sie vielleicht als charismatisch, andere üben und lernen es), umso mehr kann vermutlich Gemeinschaft entstehen und wachsen; umso mehr ist es auch in einer Lehrsituation so, dass eigentlich die Gruppe selbst den Raum hält und der Lehrer vor allem moderiert. Weitergedacht könnte sich so eine neue Kultur und Gesellschaft etablieren, die von Respekt geprägt ist und in der sich jeder Mensch sicher und angenommen fühlt. Vermutlich arbeitete Jesus darauf schon vor 2000 Jahren hin. 

Ich sah neulich ein Bild von einem Giotto-Fresco von meinem Namensvetter Franz von Assisi (s. oben). Es stellt die Szene dar, wie er mit den Vögeln spricht. Und auch darin lässt sich die Kunst des „Raum Haltens“ erkennen: Er ist ihnen vollkommen zugewandt, und die Vögel genießen Franzens Ansprache offensichtlich.

Es ist interessant, dass es uns Menschen, besonders wenn wir tierliebend sind, oft leichter fällt, Tieren – unserem Hund, unserer Katze – respektvoll und ohne Kritik zu begegnen als Menschen; uns ihnen gegenüber komplett zu öffnen und uns verletzlich zu zeigen, vermutlich weil sie uns auch bedingungslos annehmen und wir niemals befürchten müssen, von ihnen verurteilt oder abgelehnt zu werden.

Schade eigentlich, und gleichzeitig auch verständlich, dass das mit Menschen so viel schwieriger ist und wir dort oft das Gefühl haben, uns schützen und verstecken zu müssen. Jesus war da wohl anders, Franz von Assisi vielleicht auch. Warum? Vermutlich beherrschten sie es besser als die meisten von uns, mit sich selbst im Einklang zu sein, sich nicht zu verstecken und nichts beweisen zu müssen, sondern einfach mit Offenheit und vollständigem Vertrauen durchs Leben zu gehen. Vielleicht fühlten sie sich einfach immer sicher aufgehoben. Als wäre die ganze Welt dieser sichere magische Raum – ein schöner Gedanke. 

Morgen feiern wir wie jedes Jahr die Geburt Jesu, der die Kunst des „Holding Space“ für andere Menschen so meisterlich beherrschte. Vielleicht können wir uns davon inspirieren lassen, und es als spielerischen Auftrag mit ins neue Jahr nehmen, uns selbst dabei zu beobachten, wie wir anderen begegnen; in welchen Situationen wir vielleicht instinktiv das „Holding Space“ praktizieren; und wie wir vielleicht noch besser für uns selbst präsent sein können, damit sich dieser Geist immer stärker auf die Gesellschaft überträgt.