In letzter Zeit habe ich mir Gedanken zum Thema “schmerzliche Kindheitserlebnisse” gemacht. Es geht nicht um Traumata, an denen Menschen zerbrechen, Dissoziation und ähnliches, sondern um die größeren und kleineren Kindheitsverletzungen, die fast jeder Mensch mit sich herumträgt. Es soll auch nicht um Fachwissen gehen, sondern um Einsichten aus einigen Jahren ThetaHealing. Es ist ein sensibles Thema. Hier einige Gedanken.
Der Mensch ist einzigartig darin, dass er völlig hilflos geboren wird und jahrelang auf Erwachsene angewiesen ist: Er braucht Nahrung, Schutz, Bindung, Liebe und Fürsorge. Wenn uns dies als Kind fehlt oder genommen wird – tatsächlich oder in unserer Wahrnehmung – kann dies als existenzielle Bedrohung empfunden werden. Die Emotionen, die in dieser Situation entstehen und uns auf unserem Lebensweg begleiten, sind das Trauma (nicht das Erlebnis selbst).
Da weder die Welt noch unsere Bezugspersonen perfekt sind, ist es fast unausweichlich, dass Kinder in ihren ersten Lebensjahren schmerzliche oder traumatische Momente erleben. Das kann vieles sein, z. B. seine Eltern in einer Menschenmenge aus den Augen zu verlieren, eine beiläufige verletzende Bemerkung, vor der ganzen Schulklasse bloßgestellt zu werden, ein Unfall, eine Verlusterfahrung, Aggression und anderes mehr. Wie resilient Menschen in Bezug auf solche Erlebnisse sind, ist sehr verschieden.
Es gibt Wege, seine schmerzlichen Erfahrungen mindestens ein Stück weit hinter sich zu lassen. Ein Ansatzpunkt ist, sich in die Situation hineinzuversetzen, dann einen Schritt aus dem Schatten der Emotionen herauszutreten und sich die Situation von außen anzusehen und zu fragen: Was ist hier wirklich passiert? Zum Beispiel mag sich die Erkenntnis einstellen, dass in der Situation ein beteiligter Erwachsener in Wirklichkeit viel hilfloser war als das Kind. Oder dass der Erwachsene die kindliche Not nicht wahrnehmen konnte. Oder dass die Eltern mindestens so sehr gelitten haben wie das Kind selbst. Aus meiner Erfahrung hilft es, sich die Situation aus unterschiedlichen Perspektiven anzusehen und sich in die Schuhe aller Beteiligter zu stellen.
Jede menschliche Lernerfahrung, egal wie schmerzlich, hat mehrere Facetten. Unser Unterbewusstsein hält an diesen Emotionen fest, weil sie relevant sind. Viele dienliche Eigenschaften und Errungenschaften in unserem Leben sind vielleicht erst aus diesen Erfahrungen entstanden. Drei Beispiele: Menschen, deren Vertrauen als Kind missbraucht wurde, entwickeln oft ungeheure Antennen dafür, wem sie vertrauen können und wem nicht. Sie haben ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen und das kann sie im Leben weit voranbringen. Wer als Kind regelmäßig verletzt wurde, pflegt als „gebranntes Kind“ oft einen besonders liebevollen Umgang mit den eigenen Kindern. Wenn ein Kind als Versager abgestempelt wurde, kann das ein regelrechter Motivator sein, erfolgreich zu werden. Um herauszufinden, wie einen eine schmerzliche Erfahrung im Leben vielleicht positiv geprägt hat (so absurd das klingen mag), kann man sich fragen: Wo stünde ich heute und wie wäre ich geworden ohne diese Erfahrung. Eventuell stellt man fest, dass einen einiges davon im besten Sinne zu der Person macht, die man ist, und man diese Eigenschaften nicht missen möchte.
Wenn man erkennt, dass aus schmerzlichen Erfahrungen Eigenschaften entstanden sind wie Empathie, Unabhängigkeit, Stärke oder Mitgefühl, ist es unter Umständen möglich, die negative emotionale Aufladung der Erlebnisse ein Stück weit loszulassen. Den Zusammenhang zwischen den positiven Eigenschaften und den Erlebnissen zu verstehen, ist ein erster Schritt. Der Antrieb dafür, ein liebevoller Vater zu sein, erwächst dann idealerweise aus der echten Empathie, die man entwickelt hat, und nicht aus der Angst, die Kinder könnten verletzt werden. Man erlebt dann z. B. seine außergewöhnlichen zwischenmenschlichen Antennen als Stärke statt als Überlebensmechanismus. Um Erfolg zu haben, braucht es dann nicht mehr den Antrieb der Demütigung aus der Kindheit.
Manchmal führen Kindheitserlebnisse zu einer großen Wut – auf die Menschen, die uns etwas angetan haben, die uns nicht beschützt haben, oder auf uns selbst, weil wir uns hilflos fühlen oder uns schämen. Es ist wichtig, dass man diesen Emotionen ihre Raubzähne zieht. Man kann die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, aber man kann lernen, die Erfahrungen als Ereignisse zu sehen, die in der Vergangenheit liegen und keine Bedrohung mehr darstellen. Idealerweise lässt man die Wut mit der Zeit los. Dann wird unter Umständen sogar Mitgefühl und Vergebung möglich. Vergebung ist ein machtvoller Schutz vor Verletzung.
Man muss nicht alles, was passiert ist, auf die Goldwaage legen. Wenn diese Dinge aber nicht abgeschlossen sind, kann das belastend sein. Da wir als Kinder das Leben nehmen wie es kommt, sind wir uns der Rolle mancher Vorfälle vielleicht gar nicht konkret bewusst. Aber die prägenden Lektionen liegen meist dicht unter der Oberfläche unseres Unterbewusstseins in Dauerbereitschaft, uns bei Bedarf zu verteidigen. Wenn ich einen Klienten in einer Sitzung nach dem Ursprung eines aktuellen Problems frage, kommt oft prompt eine (auch für den Klienten) überraschende Antwort wie: „Damals im Kindergarten gab es einen Vorfall…“ oder „Mein Vater hat immer zu mir gesagt…“. Von außen betrachtet ist das oft nichts Großes. Aber im Unterbewusstsein sind die Themen aktiv und gestalten unser Leben mit.
Oft meint man, man sei mit seinen Kindheitsthemen allein. Es kann hilfreich sein, mit vertrauten Menschen über solche Erlebnisse zu sprechen. Die Erfahrung in Worte zu fassen, sie ans Licht zu bringen und die Reaktion, das Mitgefühl, die Perspektive des Gegenübers zu erleben, lässt die belastende Energie manchmal zusammenschrumpfen wie einen angepieksten Luftballon.
Es ist ganz normal, dass der Mensch größere oder kleinere Verletzungen mit sich herumträgt. Nicht normal finde ich, dass die Verletzungen unserer Kindheit in unserer Gesellschaft ein Stück weit tabuisiert sind. Als Maßstab für Stärke und Erfolg gilt dort das äußere Funktionieren, egal wie es innen aussieht. Solange wir funktionieren, wird erwartet, dass wir mit unseren inneren Schatten klar kommen. Oft haben wir sie unter den Teppich gekehrt oder uns an den inneren Stress gewöhnt – manchmal schämen wir uns dafür. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass diese Kultur zu Problemen in unserer Gesellschaft führt.
Was tun? Ich finde, das Leben ist zu kurz, um einfach zu akzeptieren und auszuhalten. In vielen Fällen ist Heilung möglich. Dafür ist es erlaubt und nötig, die Herausforderung dieser Themen anzunehmen und sich selbst zu erforschen auf eine passende Weise (es gibt viele). So können wir mit der Zeit aus den inneren Schatten heraustreten und mit mehr Freude und Leichtigkeit voranschreiten.