Die unerlässliche Leichtigkeit des Seins
Menschen, die sich auf den Weg von Meditation, Heilung und Spiritualität begeben, bekommen gelegentlich zu hören, dass diese Art von „Selbstoptimierung“ ein zutiefst egozentrisches Verhalten sei, ein Schlag ins Gesicht für alle, die auf dieser Welt Ungerechtigkeit erfahren, und dass all dies nichts zur Lösung der Probleme dieser Welt beitrage. Ich sehe das anders und bin sogar der Meinung, dass der Blick nach innen und das Streben nach Leichtigkeit und innerem Wachstum eine Voraussetzung für das Überleben der Menschheit ist.
Unsere physische Welt besteht aus unserem Körper und aus unserem blauen Planeten. Unser Körper ist ein Kind des Planeten, untrennbar damit verbunden. Beides krankt. Dabei stehen uns alle nötigen Nährstoffe zur Verfügung und unser Körper ist mit einem ausgeklügelten Immunsystem ausgestattet und darauf ausgelegt, bei Bedarf die Selbstheilungskräfte in Gang zu setzen. Dass unser Planet krankt, ist bekannt. Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass die Ausbreitung des SARS-CoV2-Virus ein Symptom des ausbeuterischen Umgangs der Menschheit mit unseren natürlichen Ressourcen ist.
Der kranke Mensch und der kranke Planet sind zwei Seiten derselben Medaille. Betrachten wir zunächst den kranken Menschen: Die klassische Schulmedizin konzentriert sich auf die Behandlung von Krankheiten, weniger auf die Heilung des Menschen. In anderen Worten, sie betrachtet Symptome und stellt selten die Frage nach der Ursache für eine Erkrankung.
„Heilen“ hat mit dem englischen Wort „whole“ (ganz) zu tun und heißt so viel wie „ganz machen“. Körper und Geist werden dabei als eine Einheit gesehen, untrennbar miteinander verbunden. Wenn eine Krankheit auftritt, so wird dies als ein Hinweis auf ein Ungleichgewicht im Gesamtsystem verstanden; um wieder „ganz“ zu werden, muss ein neues Gleichgewicht hergestellt werden. Manchmal passiert dies von alleine, d. h. Lebensumstände ändern sich, eine kurze Stressphase geht vorbei, das Immunsystem läuft zur Hochform auf und der Mensch wird wieder gesund.
In anderen Fällen passiert dies nicht, und eine medizinische Intervention ist sinnvoll und nötig. Aber, plakativ gesagt, wenn ich ein Geschwür herausschneide, ohne mich damit zu beschäftigen, wodurch ein übermäßiges Zellwachstum vielleicht auf seelischer Ebene ausgelöst wurde, sind die Chancen höher, dass es wiederkommt – weil das Entfernen des Symptoms keine Heilung darstellt. Deshalb lohnt sich meines Erachtens in den meisten Fällen eine Kombination aus medizinischer Behandlung und Heilung durch Selbsterforschung.
Zu den typischen Auslösern von Krankheiten zählen Stress, ein ungesunder Lebenswandel, Konflikte, diverse Ängste, Wut, Hass, Verbitterung, Selbstwertthemen, Ablehnung, Gewalt, Überforderung, Frustration, Einsamkeit, schlechte Kommunikation, suboptimale Beziehungen, Mangel aller Art, Leistungsdruck und auch Umweltgifte und genetische Dispositionen. Die Vorstellung, dass Krankheiten einer Lebenslotterie unterworfen sind – die einen trifft es halt, die anderen nicht – ist aus meiner Erfahrung kaum haltbar.
Die meisten dieser Auslöser ließen sich durch Veränderung in unseren inneren und äußeren Umständen überwinden. Aber wir tun sie uns oft über viele Jahre an, wohl wissend, dass sie ungesund für uns sind und wir eigentlich etwas ändern müssten. Das hat etwas Selbstzerstörerisches. Und diese selbstzerstörerische Kraft überträgt sich auf den Planeten. Wenn wir es nämlich kaum schaffen, mit uns selbst nachhaltig gut und liebevoll umzugehen, wie soll uns das dann erst im gesellschaftlichen Miteinander und im Umgang mit der Natur gelingen?
Im japanischen Buddhismus gibt es das Konzept des „Satori“. Es beschreibt das Erwachen gegenüber der eigenen wahren Natur, einen vorübergehenden Einblick in eine höhere Wirklichkeit, die dem normalen Bewusstsein verborgen bleibt, einen Moment eines lichtvollen Zustands – der beispielsweise durch Meditationspraxis (oder Gebet) erreicht wird.
Satori kann plötzlich oder graduell auftreten und es mündet in einem vorübergehenden oder dauerhaften Zustand, in dem die gefühlte Trennung zwischen dem Selbst und der Umwelt aufgehoben ist und das Ego zurücktritt. Es entsteht ein starkes Gefühl der inneren und äußeren Verbundenheit, Ängste (auch vor dem Tod) verschwinden und weichen einem Gefühl von Licht, Mitgefühl, Kraft und Liebe gegenüber jeder Art von Leben; ein starker moralischer Kompass und ein stabiles Selbstwertgefühl stellen sich ein.
Gehirnforscher zeigen, dass die Prozesse, die z. B. durch Meditationspraktiken in diesem Sinne ausgelöst werden, zu dauerhaften neurologischen Veränderungen in unserem Gehirn führen. Wie Martha Beck in ihrem Buch über Integrität schreibt: „Der Weg zur Erleuchtung ist nicht nur real, sondern wir sind biologisch dafür ausgelegt, ihm zu folgen.“ Wenn wir das tun – vielleicht auch nur, um unsere persönlichen Probleme zu lösen – verändern sich unsere Gedanken, Worte und Taten in einer Weise, die auch eine Wirkung auf unsere Mitmenschen entfaltet. Wir werden gelassener, klarer, offener, hilfsbereiter, leichter, engagierter, zufriedener, kooperativer, intuitiver und anderes mehr. Das kann unsere Mitmenschen inspirieren und eine Kettenreaktion der Heilung in Gang setzen.
Seit ich mich sozusagen auf den Weg des Satori begeben habe, habe ich ein viel klareres und positiveres Selbstbild entwickelt und habe deutlich mehr Leichtigkeit in meinem Leben und mehr Kraft, Motivation, Lust und Zeit, mich auf verschiedene Weise zu engagieren.
Nun zur Erde: In meiner Wortschleife-Arbeit beschäftige ich mich viel mit Nachhaltigkeitsthemen und bin beeindruckt vom dahingehenden Engagement in vielen Bereichen unserer Gesellschaft. Wenn wir den kränkelnden Planeten betrachten, entspricht der technologische Ansatz zum Klimawandel, z. B. Treibhausgase durch innovative Technologien einzusparen, einer medizinischen Behandlung. Es ist ungeheuer wichtig und nötig, dass wir an allen Stellschrauben der Nachhaltigkeit drehen. Aber ohne einen tiefen Bewusstseinswandel in Bezug auf uns selbst wird das nicht ausreichen. Wir brauchen auch hier Behandlung und Heilung. Denn solange ich aus Pflichtgefühl und Vernunft weniger fliege, Auto fahre, Fleisch esse, Plastik verbrauche usw., bleibt das Engagement oberflächlich. Es besteht die Gefahr der weitverbreiteten Wert-Handlungs-Lücke (ich habe zwar die richtigen Überzeugungen, halte mich aber im Alltag oft selbst nicht daran). Erst durch das Entwickeln einer zutiefst empfundenen mitfühlenden Verbindung zu allem Leben, zur Natur und vor allem zu uns selbst kann ein tief verankertes, nachhaltig respektvolles Verhalten entstehen – Wert und Handlung werden deckungsgleich.
Martha Beck nennt eindrückliche Muster in der Verflechtung von unserem Körper mit unserer Umwelt und Beispiele dafür, wie sich unsere Einstellung zu unserem Körper im Zustand unseres Planeten spiegelt: Vielleicht regt uns beispielsweise Umweltverschmutzung auf, wir führen aber unserem eigenen Körper regelmäßig ungesunde Substanzen zu; vielleicht regt uns Diskriminierung auf, wir empfinden uns aber selbst als minderwertig und behandeln uns nicht liebevoll; vielleicht regt uns die Ausbeutung und grausame Behandlung von Menschen und Tieren auf, wir traktieren aber auch den eigenen Körper (auch ein Tier) durch Überarbeitung, Bewegungsmangel, Stress, ungesundes Essen usw.
Mahatma Gandhi brachte es auf den Punkt: „Wir sind nur ein Spiegel der Welt. Alle Tendenzen, die sich in der äußeren Welt zeigen, existieren auch in der Welt unseres Körpers. Wenn wir uns selbst ändern könnten, würden sich auch die Tendenzen in der Welt ändern. Wie der Mensch sein eigenes Wesen ändert, so ändert sich auch die Einstellung der Welt ihm gegenüber. Dies ist das höchste göttliche Geheimnis. Es ist eine wunderbare Sache und die Quelle unseres Glücks. Wir brauchen nicht darauf zu warten, was andere tun.“
Der Dalai Lama erregte 2019 Aufsehen mit der Aussage, die Welt werde aus seiner Sicht von “der westlichen Frau” gerettet. Immer wieder lese ich derzeit, die Welt brauche dringend einen stärkeren Fokus auf ihre weiblichen Qualitäten. Unsere Mutter Erde, die Schöpfung, Gaia, wird assoziiert mit Fülle, genährt sein, Liebe, sinnlicher Wahrnehmung und Weisheit – den archetypischen Eigenschaften der Muttergottheit. Aktuell herrscht auf der Erde nach wie vor Hunger, Krieg, Hass, Spaltung – und mit der Weisheit ist es auch nicht immer so weit her. Wenn es uns also auch gelingt, durch Introspektion und eine bessere Körper-Geist-Verknüpfung unsere innere Stimme klarer wahrzunehmen und unsere natürliche Verbindung zu diesen Ur-Qualitäten von Mutter Erde, unserer Quelle, wiederzufinden, wenn wir diesen Qualitäten in unserem individuellen und kollektiven Leben den notwendigen Raum geben, kommen wir in ein anderes Bewusstsein und tragen zur Heilung der Menschheit und der Erde bei.