Muss ich das?
Neulich unterhielt ich mich mit einer Freundin über den Umgang mit Themen und Problemen, die uns im Leben und Alltag belasten. Ich sagte ihr, ich sei froh, die Werkzeuge der beiden Heilmethoden, die ich gelernt habe, ThetaHealing® und Integration Technique®, zur Verfügung zu haben. Wenn sich irgendein belastendes Thema zeigt, kann ich mit diesen Werkzeugen direkt daran arbeiten. Im besten Fall kann ich es lösen oder zumindest mehr Klarheit im Umgang damit bekommen. Sie fragte kritisch nach: „Muss man das denn wirklich bei jedem Thema machen?“
Die Antwort lautete ganz klar: nein, man muss gar nichts. Aber man kann, wenn man will. Und ich will. Es fasziniert mich einfach zu sehen, was alles durch die reine geistige oder emotionale Arbeit möglich ist und wie sehr sich das äußere Leben durch die Arbeit im Inneren verändern lässt.
Außerdem bin ich da ganz eigennützig: Ich finde den Zustand nicht gerade angenehm, wenn mich etwas belastet, weshalb ich möglichst eine Veränderung herbeiführen möchte, und sei es nur in meiner Perspektive der Situation. Warum sollte ich etwas über längere Zeit aushalten, wenn das gar nicht unbedingt nötig ist?
Bei der Frage meiner Freundin schwang vielleicht auch ein latenter Argwohn gegenüber dem Konzept der „Selbstoptimierung“ mit, das ja seit ein paar Jahren irgendwie „in“ ist und gleichzeitig viel Kritik erntet. „Selbstoptimierung“ scheint mir allerdings ein recht schwammiger und oberflächlicher Begriff zu sein. Geht es dabei um Muckis, Nahrungsergänzungsmittel und ein faltenfreies Gesicht?
Hier geht es jedenfalls um etwas anderes. Es geht darum zu akzeptieren, dass Leiden zum Leben gehört, und gleichzeitig zu erkennen, dass wir dem nicht immer hilflos ausgesetzt sind, sondern oft die Möglichkeit haben, etwas zu verändern. Dazu müssen wir bereit sein, unsere Macht zur Veränderung anzunehmen – es geht also um Selbstermächtigung, um Selbstwirksamkeit. Das gilt auch im Umgang mit Traumata, Ängsten, Verlusten und anderen einschneidenden und tragischen Lebenserfahrungen. Alles andere wäre Fatalismus – und der bringt niemanden weiter.
Die fokussierte Arbeit an den psychischen Prozessen und Emotionen, die diese Themen auslösen, ermöglicht es mir, zumindest ein Stück weit zu entscheiden, wie viel Macht ich diesen Themen über mein Leben gebe. Diese Arbeit ist nicht immer einfach, und es erfordert Mut, sich schmerzhaften und unangenehmen Themen und Erfahrungen wirklich und auch längerfristig zu stellen. Aber aus meiner Sicht besteht kein Zweifel daran, dass sich das grundsätzlich lohnt.
Warum? Wir leben dieses eine irdische, physische Leben zu dieser Zeit. Ist es da nicht sinnvoll, danach zu streben, dieses Leben möglichst selbstbestimmt, frei und glücklich zu leben? Das Leben und die Welt vielleicht sogar kreativ mitgestalten zu können? Und was braucht es, um uns in diese Lage zu versetzen? Genau das: das Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung und dazu möglichst noch Mitgefühl, Erfüllung, Freude und Elan – statt eines Gefühls des Ausgeliefertseins, des Gefangenseins, der Ohnmacht, des Mangels. Wir sind sensible Wesen. Wenn wir in Sorge leben oder mit Groll und Angst, wenn wir uns gelähmt fühlen und keine Energie haben, wie sollen wir dann wirksam oder glücklich werden? Und wie können wir uns selbst, die Gemeinschaft der Menschen und die Welt weiterentwickeln?
Wenn ich also von diesem Standpunkt aus anstrebe, dass es in der Welt runder läuft, dann fühle ich mich tatsächlich dazu verpflichtet, mich persönlich in einen guten, ausgeglichenen Zustand zu versetzen, sonst wird es mit der Welt nichts. Das erfordert keine Heldentaten, sondern nur, dass man sich bewusst auf den Weg macht, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, und zu mehr Einklang und Zufriedenheit mit sich selbst kommt – der Rest ergibt sich fast von alleine. Und was dieser Rest ist, ist von Mensch zu Mensch verschieden.
So gesehen ist es tatsächlich sinnvoll, jedes Thema, das auftaucht, wie ein Forschungsobjekt unter das Mikroskop zu legen und genauer zu untersuchen. Darüber hinaus interessiert es mich, in diesem Leben tiefere Schichten des Seins zu erforschen, tiefere Zusammenhänge zu erfahren und ein immer besseres Gefühl dafür zu entwickeln, was wirklich wichtig und wahr ist. In unserer Gesellschaft dominieren oft Werte, die von unserem Wirtschaftssystem geprägt sind, wie materieller Wohlstand, Erfolg, wirtschaftliches Wachstum durch Wettbewerb, Kommerz. Das ist alles schön und gut und lässt uns, wenn es gut läuft, nachts in Sicherheit und ohne Existenzängste schlafen. Aber ist das alles in einem tieferen Sinn wirklich wichtig und wahr?
Neulich hörte ich von einem buddhistischen Mönch folgende drei Denkanstöße:
1. Jeder Mensch, den du liebst, wird sterben – zeige ihm also deine Liebe, bevor es zu spät ist.
2. Das Leben an sich hat keine Bedeutung – bis wir uns entscheiden, ihm Bedeutung zu geben.
3. Kein Mensch ist perfekt – wir haben alle unsere Fehler, und genau das macht uns einzigartig.
Diese drei Punkte sind für mich eine Einladung, aus dem Hamsterrad und dem „schneller – besser – weiter“-Denken unserer Gesellschaft auszusteigen und unseren Fokus immer wieder neu zu justieren. Was brauche ich wirklich für ein tiefes, glückliches, selbstbestimmtes Leben? Nicht viel. Im Gegenteil:
Im Buddhismus und anderen Traditionen gibt es das Schlüsselkonzept der „Nicht-Anhaftung“ (non-attachment). Es bezieht sich auf das Loslassen von Bindungen an Dinge, an Verlangen, an Emotionen und an Denkweisen. Solche Anhaftungen werden als Quelle von Unzufriedenheit und Leiden angesehen. Ziel ist es, diese nicht zu brauchen und sich nicht von ihnen beherrschen zu lassen. Durch das Loslassen lässt sich innerer Friede und innere Freiheit erlangen.
Der Sinn des Nicht-Anhaftens besteht darin, dass man anfängt, seine Gedanken und Emotionen aufmerksam wahrzunehmen. Was beschäftigt meinen Geist? Was treibt mich an? Wo und wann suche ich mein Glück in der äußeren und nicht in der inneren Welt? Brauche ich diese Dinge wirklich? Es geht dabei nicht darum, alles Materielle, alle Wünsche und Bindungen zu Menschen aufzugeben und gefühlskalt zu werden. Nicht-Anhaftung bedeutet also nicht, dass du nichts besitzt, sondern es bedeutet, dass dich nichts besitzt. (Dabei muss man aufpassen, dass das Konzept des Nicht-Anhaftens nicht selbst zu einer neuen Anhaftung wird :-))
Kehren wir nach diesen Überlegungen also noch einmal zur Eingangsfrage zurück, ob es wirklich notwendig ist, alles, was uns beschäftigt und belastet, genauer unter die Lupe zu nehmen. Eine etwas andere und optimistische Antwort darauf gibt Dr. Gabor Maté in der Einleitung seines Buches Vom Mythos des Normalen: „Heilung ist nicht garantiert, aber sie steht uns zur Verfügung. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Heilung in dieser Phase der Geschichte unserer Erde auch notwendig ist. Alles, was ich im Laufe der Jahre gesehen und gelernt habe, stimmt mich zuversichtlich, dass wir dazu in der Lage sind.“