Über Dichter und Meister
Bist Du ein Meister oder eine Meisterin? Aktuell nehme ich an einem spannenden Online-Kurs teil. Der Lehrer hat viele verschiedene Dinge in seinem Leben gemacht, wurde schon in der Kindheit als Yogi und in verschiedenen spirituellen Traditionen ausgebildet, ist Musiker, Künstler und Heiler. Den Kurs hat er neu entwickelt (es geht mal wieder im weitesten Sinne um Heilung). Er sagte anfangs, er habe sich mit so vielen wertvollen Dingen in seinem Leben beschäftigen dürfen, dass er glaube, etwas teilen können, was andere Menschen vielleicht weiterbringt, auch wenn er sich nicht als „Meister“ irgendeiner Lehre sehe.
Ich finde das einen schönen Gedanken. Denn in unserer Leistungsgesellschaft rennen wir oft einem Perfektionismus hinterher, fokussieren auf das, was wir nicht können, und sind recht selbstkritisch. In diesem Denken besteht immer eine Lücke zwischen dem, was wir (sein) wollen und dem was wir haben und sind. Wir vergessen regelmäßig, wie viel wir eigentlich zu geben haben. Allein aus unserer Erfahrung heraus, die sich von der Erfahrung jedes anderen Menschen unterscheidet. Der Gedanke, seine Fähigkeiten und Leidenschaften teilen zu können, ohne sich erst als Meister verstehen zu müssen, bringt viel Ruhe in die Sache und das Leben. Das heißt nicht, dass man sich keine Mühe geben oder jemals aufhören sollte zu lernen. Es sollte aber eben nicht aus einem Gefühl der Unzulänglichkeit oder einem falschen Ehrgeiz entstehen, sondern aus Freude und Neugier. Dann macht auch das Teilen mehr Spaß, weil es nicht aus Leistungsdruck, sondern aus Gemeinschaft entsteht – man versteht sich eher als gegenseitige Wegbegleiter, und das Teilen hat dann nichts Belehrendes.
Neulich las ich über den amerikanischen Schriftsteller Kurt Vonnegut (1922-2007). Er nahm als Jugendlicher an einer archäologischen Ausgrabung teil. Eines Tages fragte ihn einer der Archäologen während der Arbeit, welche Sportarten er treibe und was sein Lieblingsfach in der Schule sei. Der junge Kurt antwortete, er treibe keinen Sport, er interessiere sich für Theater, spiele Geige und habe Malkurse besucht. Der Archäologe zeigte sich begeistert. Kurt bemühte sich schnell, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen, und beteuerte, er sei in keiner dieser Sachen gut. Die Antwort des Archäologen, so erzählte der Autor später, habe sein Leben verändert. Dieser sagte in etwa: „Ich glaube nicht, dass es darauf ankommt, gut zu sein in dem, was du tust. Ich denke, bei all diesen wunderbaren Dingen, mit denen du dich beschäftigst, lernst du etwas. Das macht dich zu einem interessanten Menschen, egal wie gut du darin bist.“
Vonnegut berichtete, diese Aussage habe bei ihm einen inneren Schalter umgelegt. Sein Selbstbild wandelte sich von dem eines Versagers frei von jeglichem Talent zu einem, der Dinge unternimmt, weil sie ihm Freude bereiten. Er sagte, er sei in einem so leistungsorientierten Umfeld aufgewachsen, dass ihm dieser Gedanke eine echte Offenbarung war. Später wurde er zu einem der wichtigsten Vertreter der pazifistischen Literatur seiner Zeit.
Jeder Mensch strebt nach Erfüllung im Leben, Erfüllung seiner Erwartungen, Träume und des eigenen Potenzials. Es geht darum, zu sein, wer man ist und sein will. Dabei stellt sich die Frage, wie sehr man sich bei den Dingen, die man tut, von innen oder von außen leiten lässt. Anders gesagt, es geht um den Unterschied zwischen Streben nach äußerem Erfolg oder nach Freude und innerem Frieden.
Die Autorin und Soziologin Martha Beck hat soeben ein Buch zum Thema Integrität veröffentlicht. Ich habe es noch nicht gelesen, aber sie darüber sprechen gehört. Sie redet nicht von Integrität als moralischer Kategorie, sondern davon, die innere und äußere Welt in Einklang zu bringen, und zwar nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen. Also nicht unser Innenleben gesellschaftlichen Standards oder Erwartungen anzupassen, uns von diesen einschränken zu lassen oder uns innerlich zu verbiegen, um ein äußerlich erfolgreiches Leben zu kreieren, sondern unsere innere Wahrheit unser Leben prägen zu lassen. Sie empfiehlt: „Mache dich auf, deine Wahrheit zu leben; zu fühlen, was du wirklich fühlst; zu wissen, was du wirklich weißt; zu sagen, was du wirklich ernst meinst; zu tun, wovon in du tief in deinem Herzen überzeugt bist. Das ist der Weg der Integrität.“
In dem Buch geht es um Dantes Göttliche Komödie aus dem 14. Jahrhundert. Dante beschrieb vor 700 Jahren – fast wie in einem Selbstfindungsbuch – das Ziel des Lebens sei es, sich selbst in Harmonie mit seiner eigenen Wahrheit zu bringen, um auf diese Weise eine Transformation des menschlichen Bewusstseins zu erreichen. Wenn wir tief in unsere eigene Wahrheit eintauchen, werde die Realität ein magischer Ort.
Dante, selbst Protagonist seiner Geschichte, erzählt zu Anfang, wie er sich in einem Wald verirrt und an einen Berg kommt. Er beschließt hinaufzusteigen, überzeugt davon, dass er am Gipfel seine Orientierung, seine Erfüllung, finden werde. Aber es kostet ihn große Anstrengung dort hochzusteigen; er wird von wilden Tieren angegriffen (die verschiedene emotionale Zustände symbolisieren) und je näher er sich an den Gipfel herankämpft, umso mehr leidet er. Er geht schließlich zurück in den Wald und findet das Tor zur Hölle, auf dem steht, „Ihr, die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren“ – klingt erstmal nicht so toll. Aber es bedeutet, dass die anstehende Transformation radikale Veränderung braucht, oder, wie Martha Beck sagt: „Die Raupe überlebt die Transformation niemals – dafür entsteht aus ihr ein neues wunderbares Wesen, der Schmetterling.“
Die meisten von uns, zumindest die hier mitlesen, sind schon ziemlich weise und haben das alles längst verstanden. Schwierig wird es gelegentlich bei der Umsetzung. Da nagen doch noch manchmal die inneren Stimmen, die Selbstzweifel, der Leistungsdruck, die schweren Gedanken, die Versagensängste. Gerade wenn man derzeit immer wieder seinen Beruf nicht ausüben darf und es finanziell eng wird, kommt so etwas gerne hoch.
Die überlieferten Weisheiten aller Zeiten weisen darauf hin, dass es auch (oder gerade) in schwierigen Zeiten möglich ist, in die Erfüllung zu kommen. Manchmal braucht es auf diesem Weg ein radikales Aussortieren. Im vergangenen Jahr haben viele Menschen ihre Wohnung entrümpelt, weil endlich Zeit dafür da war. Es besteht auch eine Chance für inneres Entrümpeln. Da, wo uns emotionale Zustände Stress bereiten, zu gucken, was dahintersteckt und Transformation auf den Weg zu bringen. Und durch das minimalistischere Leben, zu dem wir gerade gezwungen sind, der Frage nachzugehen, was ist meine Wahrheit? Wie kann ich sie authentisch leben? Was ist wirklich wichtig? Was kann ich loslassen, so wie Dante? Gleichzeitig zu fragen, was bereitet mir echte Freude? Wo will ich aktiv werden? Es geht darum, tief in sich hineinzuspüren und immer mehr in sein wahres Selbst hineinzuwachsen, es überzustreifen wie eine Lieblingsjeans und sich darin zu Hause zu fühlen. Der lange Weg von Verlangen zu Erfüllung, bzw. die Lücke dazwischen, schrumpft dann zusammen. Man ist einfach – im besten Sinn. Auch das Handeln wird einfacher. Man erklimmt den Berg dann mit Leichtigkeit und Freude oder lässt ihn links liegen, weil er irrelevant ist – das äußere Suchen nach Orientierung ist zu Ende, weil sie innen liegt. Man zieht die richtigen Menschen an und teilt miteinander, was man zu teilen hat. Man wird anstrengungslos zum Meister oder zur Meisterin des Seins. Der Weg heißt loslassen, entrümpeln, Raum für neues Bewusstsein, Wahrheit und Freude schaffen.
Für mich steht der kanadische Baum auf dem Foto für genau das: Er ist so stark, dass ihm die Stürme des Lebens nichts anhaben können, sonnenbeschienen, vital, gut geerdet, und er hat viel Raum zum Atmen und Platz, in alle Richtungen zu wachsen.